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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Und dann erzählte er eine Geschichte, die man ihm einfach abkaufen musste

Nachruf auf Rolf Gärtner (Geb. 1948)
Roller, wie ihn alle nannten, ließ sich von einem Freund nach Bremen chauffieren, eilig, denn es ging um den Ankauf eines Stahlrohrstuhls von Mies van der Rohe. Auf dem Rückweg legten sie einen Halt ein, übernachteten in einem Doppelzimmer, aber Rollers Hand war immer am Stuhl. Es war ein seltenes Einzelstück, und seine Liebe zum Bauhaus war größer als alle anderen Lieben, die zu Siegfried vielleicht ausgenommen.
Als Roller das erste Mal ins Dessauer Bauhaus-Gebäude kam, ging er in die Knie und küsste die Türklinke, die Walter Gropius gestaltet hatte. In seiner kleinen Wohnung stand ein Weißenhof-Stuhl, dieser erste federnde Freischwinger von Mies van der Rohe, einige wenige Art-déco-Möbel, Bilder von Malerfreunden und all das, was er zwischenlagern musste, wenn sein Laden darunter wieder einmal überquoll. Roller war immer unterwegs, auf Flohmärkten, Antiquitäten-Messen, bei befreundeten Händlern, akquirieren und nein, nicht einfach verticken, sondern gut verkaufen.
In Köln hatte er Kaufmann gelernt, aus Hannover war er geflohen, zu spießig, Berlin aber wurde seine große Bühne. „Weißt du, ich hab' da was, großartig, guck mal und komm mit aufs Karussell der schönen Dinge!“ Immer war alles großartig, einzigartig, phänomenal. Eine Lampe aus dem Besitz der Schauspielerin Lil Dagover, zwei Meter mit Schirmblüte, ein Wanderpokal des grandiosen Geschmacks. „Kauf du sie!“ Manche Bilder, da sehen andere weg, denn jedes Bild braucht seinen eigenen Betrachter. „Du verstehst es!“
Er hatte den Blick, und er hatte die Fantasie, jedem Ding seine ganz eigene Geschichte anzudichten, die musste nicht immer wahr sein, aber stimmig war sie und passend für den Käufer. Alles, was er fand, ging durch ein verbales Galvanisierungsbad: verchromen, versilbern, vergolden. Jedes Teil ein Unikat! Bei den Bauhausmöbeln der 20er Jahre machte ihm keiner was vor. Da kannte er den Sitz jeder Schraube, jede Modellreihe, jeden Prototyp. Er verstand es, den anderen die Augen für das Besondere zu öffnen, und vor allem verstand er es, die Blicke der anderen auf sich selbst zu ziehen. Wenn er Margarete, der Hure mit den größten Brüsten der Stadt, ein Bild verkaufte, dann mit der gleichen Leidenschaft, mit der er Museen Interieurs von El Lissitzky anbot.
Die ganz große Geste dessen, der eigentlich verschenkt, was er verkauft. „Freundin, ich sage dir!“, und dann erzählte er eine Geschichte, die man ihm einfach abkaufen musste.
Er hatte ein schönes Benehmen, ein ungemein gefälliges, zuweilen nervendes. Schmal und gut gewachsen war er, immer stilsicher, fröhlich bunt unterwegs, Halstuch, flottes Hemd, schöne Schuhe, gelegentlich eine Rüsche, stets mit Mütze, aber nie tuntig. Manchmal schrill mondän, wenn er als Empfangsdame bei einer Modenschau von Claudia Skoda präsidierte und mit spitzer Zunge die Gäste sortierte. Er liebte den großen Auftritt.
Finanziell war er immer ein wenig in Schieflage, denn er hat noch besser gelebt als verkauft. Reisen war nicht seins, aber Exzesse mochte er von Zeit zu Zeit, im Lebenstaumel dreht es sich leichter um sich selbst. Abends zog er los, ins Kleist-Casino, wo die Stricher und die Künstler alle nur auf ihn zu warten schienen. Salomé, Luciano Castelli, die „Geilen Tiere“, wie sie sich als Band nannten: Elektropunk. Weiter in den „Dschungel“, wo Tabea Blumenschein ihn herzte, der schönste aller Nachtfalter, und wo so viele andere „geniale Dilettanten“ umher schwärmten, eine endlose Folge von Feiertagen. Als David Bowie in die Stadt kam, wurde er von Roller sofort untergehakt. Nina Hagen war seine beste Freundin, kaum da sie die Grenze von Ost nach West überquert hatte.
Wenn Roller liebte, dann mit laut pochendem Herzen. Wo er Publikum fand, setzte er sich in Szene. In der Oper konnte es passieren, dass er die Arme ausbreitete, durchs Foyer rauschte und lautstark rief: „Aida, du auch hier!“ Nein, er war keine „Schranktunte“, die sich verbarg. Es kam vor, dass er einem Kind 50 Pfennige in die Hand drückte und sagte: „Jetzt gehst du nach Hause und sagst Mama und Papa, die hast du von einem Schwulen bekommen!“
„Roller, jetzt setz dich mal hin und sei ruhig“, musste eine Freundin ihn immer mal wieder auf Partys mahnen, was ihm nur den Seufzer abrang: „Ihr sollt euch lieben!“ Und nach einigen Getränken mehr: „Ihr sollt euch noch mehr lieben!“ Und mit den Gedanken schon beim Katzenjammers am Tag danach: „Passt auf euch auf!“
Drei große Lieben fand er in seinem Leben. Er suchte sich ältere Männer, die ruhig ein wenig spießig sein durften, das ließ ihn zur Ruhe kommen. Zuletzt war Siegfried sein Halt, der seine Familie verlassen hatte, fortan sein „Bärchen“ war, für den er sogar Biedermeier ertrug und gekreuzte Schwerter über dem Sofa. „Ach, wenn ich meinen Sigi nicht hätte!“
Aber Sigi, seine „Spätapfelsine“, starb, obwohl Roller, als es zu Ende ging, jeden Tag in der Kirche ein Licht entzündet hatte. Das Kissen war ihm geblieben, auf dem sich Siegfrieds Kopf eingedrückt hatte, und auf dem nun sein Kopf lag, allein. Das konnte nicht sein, das konnte er nicht fassen, das ließ ihn ohnmächtig werden vor Trauer, und alt. Drei ältere Damen umsorgten ihn im Pflegeheim und lauschten seinen Geschichten von den wilden, wunderbaren Zeiten, die niemals enden, solange es schöne Dinge gibt, von denen es sich zu erzählen lohnt. Gregor Eisenhauer
Auferstehungsfriedhof an der Indira-Gandhi-Straße in Berlin-Weißensee. Foto: Doris Spiekermann-Klaa