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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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„Musste eben allet machen, wennde Widerständler bist“

Nachruf auf Eugen Herman-Friede (Geb. 1926)
Ahnt er überhaupt, dass er ein Jude ist? Auf jeden Fall will er ein braunes Hemd, eines, wie es die Jungen von der HJ tragen. Seine Schulklasse unternimmt einen Ausflug, und wer ein braunes Hemd trägt, hatte die Lehrerin verkündet, darf in der ersten Reihe marschieren und den Wimpel tragen. Die Mutter des Jungen sagt Nein, der Vater versucht einzulenken: „Der Junge möchte doch nur dazugehören.“ Also gut. Die Mutter nimmt ein weißes Hemd und färbt es braun. Dabei bildet sich im Braun ein gelbes Muster; der Junge zieht es dennoch an und läuft am nächsten Tag vorneweg in seinem nicht ganz braunen Hemd, in der Hand den Wimpel der Jungenschaft, schwarzer Grund, weiße Rune.
Er gehört dazu. Denkt er. Bald wird er wissen, dass er sich getäuscht hat.
1. April 1933. An Geschäften hängen Pappschilder: „Deutsche! Wehrt Euch! Kauft nicht bei Juden!“ Eugen fragt den Vater: „Was sind Juden?“ - „Menschen, die eine andere Religion haben.“ - „Glauben die denn nicht an den lieben Gott?“ - „Doch, sie waren sogar die Ersten.“
Eugen findet einen „Stürmer“, das Nazikampfblatt. Auf den Karikaturen haben alle Juden monströse, krumme Nasen. Bei ihm zu Hause gehen viele Juden ein und aus, russische Juden, die Tee trinken und dazu eingelegte Kirschen essen. Seine Mutter ist Jüdin und stammt aus Minsk. Kein Einziger von all denen hat eine krumme Nase. Nur sein Vater, und der hat einen tiptop Ariernachweis. Sein Stiefvater, korrekt gesagt. Aber auf Korrektheit, dieses Blutsverwandtengeschwätz, pfeift der Vater, Eugen ist sein Sohn, Punktum.
Bevor er Eugens Mutter heiratet, fährt die zu ihrer Mutter, um sie zu fragen, ob sie einen Goi heiraten darf. Die Angelegenheit ist ganz einfach: „Hauptsache, er ist ein anständiger Kerl.“
Eugens Eltern führen ein Berliner 20er-Jahre-Leben. Die Mutter flucht auf Russisch, geht in Frack und Zylinder in die Nacht, sie tanzen Charleston, sie fahren mit dem Auto ins Grüne. Der Vater ist Kaufmann, legt Wert auf die bürgerliche Bildung des Sohnes, Griechisch, Latein, die deutschen Klassiker.
Er glaubt, der Nazischrecken gehe schnell vorüber. Dann wird er, als Mann einer Jüdin, aus seiner Firma geschmissen. Er versucht, Eugen auf dem Rasseamt zum „Halbjuden“ erklären zu lassen; er versichert, der leibliche Vater zu sein. Die erstklassigen Arierspezialisten beschauen sich Eugen, Körperbau, Nase, und kommen zu dem Ergebnis: Es könnte sein, die Vaterschaft ist möglich, wenn auch nicht vollständig zu beweisen.
Aufs Gymnasium darf Eugen nicht, er muss einen gelben Stern tragen, er muss auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee arbeiten. Steht früh an der Tramhaltestelle, als ein Mann vorbeikommt, mit dem Nagel des kleinen Fingers unter den Stern fährt, ihn abreißt und brüllt: „Dein Stern ist nicht angenäht.“ Eugen muss nach Hause, die Mutter näht ihn wieder an, er fährt zum Friedhof. Am Abend holt ihn sein Vater ab: „Ich sorge dafür, dass dir nichts passiert.“
Eugen ist nicht mehr sicher. Am 27. Januar 1943 taucht er unter. Sein Verschwinden muss erklärt werden. Der Vater geht zur Polizei und gibt zu Protokoll, seinem ausgesprochen sensiblen Sohn sei der Stern abgerissen worden, er, der Vater, glaube, sein Sohn habe sich etwas angetan. Er meldet ihn als vermisst. „So war ich gelöscht aus der Liste der lebenden Einwohner Kreuzbergs“, berichtet Eugen Herman-Friede Jahrzehnte später. Er schreibt Bücher, erzählt seine Geschichte auf Vorträgen, es entsteht ein Hörbuch. Er spricht ohne eine Spur Larmoyanz, er lacht, ist selbstironisch, schildert die Leute, denen er begegnete, mit all ihren Macken, ihren Fehlern und ihrem Mut.
Zuerst kommt er bei einem Tankwart und seiner Frau unter, ein Zimmer, Küche, Toilette mitten im Raum. Dann nehmen ihn die Horns auf in ihrem Blankenburger Einfamilienhaus. Sie haben ein Elektrofachgeschäft und „eine passable Tochter in meinem Alter“, Ruth. Frau Horn leiht ihm ihre Kleider, so kann er abends mit Ruth mal raus: zwei Mädchen, die die Straße entlanglaufen. Mit Ruth tanzt er heimlich im Haus. Am nächsten Morgen ruft sie ihn, liegt nackt in ihrem Bett, er ist verwirrt, sie fragt: „Kannste nich', oder willste nich'?“
Dann das Gerücht: Bei Horns versteckt sich ein jüdischer Junge. Also weg und weiter. Zunächst zu einer Nazi-Tante, die ständig „Heil Hitler!“ ruft und ihn trotzdem für einige Tage aufnimmt. Dann kommen die Winklers in Luckenwalde, Arbeitersiedlung, zwei Zimmer. Hans Winkler ist Protokollant beim Amtsgericht, seine Frau, Tante Frida, behandelt Eugen vom ersten Tag an wie ihren Sohn: „Morgen! Jut jeschlafen?“ Viele Juden verbergen sich hier. Eugens Mutter, die sich inzwischen auch verstecken muss, besucht einmal die Wohnung und sagt: „Das ist ja wie in der Synagoge hier.“ Winklers haben zwei Kinder, Ruth und Horst, der ihm anbietet: „Wennde mal uff de Straße willst, kannste meine HJ-Uniform anziehen.“
Werner Scharff taucht auf, ihm ist die Flucht aus Theresienstadt gelungen. Gemeinsam mit den Winklers, mit Eugen und anderen Juden gründet er die „Gemeinschaft für Frieden und Aufbau“. Kommunisten sind auch dabei, sogar ein paar NSDAP-Mitglieder. Sie verfassen Flugblätter, die im ganzen Land verteilt werden, 3500 Stück insgesamt. Der Inhalt: Aufruf zum Widerstand, der tatsächliche Verlauf der Front, die Aufforderung, den Brief zehn Mal abzuschreiben und weiterzuversenden. Die Gruppe trifft sich in der Kneipe von Paul Rosin. „Ick hab mich nie um Politik jekümmert“, sagt der. - „Na, deshalb musste jetzt“, entgegnet Horst Winkler. Wie sie da so sitzen, kommt ein SA-Mann nach dem anderen herein. Sie scharen sich um das Radio, gleich kommt eine Hitlerrede. Also müssen die Hitlergegner auch aufstehen und zuhören. „Ihr seid doch bekloppt“, sagt Tante Frida hinterher. Ihr Mann erklärt: „Musste eben allet machen, wennde Widerständler bist.“
Die Gruppe fliegt auf. Festnahmen, Folter, Deportationen. Eugen landet am 2. Februar 1945 im Keller des Jüdischen Altersheims, jetzt ein Notgefängnis. Da komm ich nicht mehr raus, denkt er. Menschen mit Eisenringen an Händen und Füßen. Am 23. April 1945, seinem Geburtstag, wird er befreit. Sein Vater ist in der Haft gestorben, seine Mutter hat in Theresienstadt überlebt.
Und nun? Ein antifaschistisches Deutschland aufbauen. Er wird Mitglied der KPD, beginnt ein Studium der Gesellschaftswissenschaften, entscheidet sich um und fängt an, Kunst zu studieren. Seine Mutter heiratet Ernest Wilkan, einen verfolgten Juden, der jetzt SED-Mitglied und Direktor der Textilbetriebe Luckenwalde ist. Um an Ersatzteile für die Maschinen zu kommen, tauscht er Stoffe. Er wird im September 1949 wegen Wirtschaftssabotage verhaftet, auch Eugens Mutter und Eugen selbst. Nach drei Monaten entlässt man Eugen, Wilkan erhängt sich.
Eugen zieht nach West-Berlin, zusammen mit seiner jungen Frau. Ihre Mutter hängt noch tief im Vergangenen und hat Probleme mit dem Schwiegersohn: Der kommt aus dem Knast, hat kein Geld und ist „andersartig“.
Sie betreiben eine Lebensmittelbude an der Zonengrenze, dann verkaufen sie selbst geschneiderte Blusen, 1953 gehen sie nach Toronto, eröffnen ein Café, kommen 1956 zurück. Eugen macht Karriere in der Textilbranche.
1980 hat er einen Autounfall und muss zur Kur nach Niederbayern. An seinem Esstisch sitzt ein Mann aus Dachau, der eines Tages ein Paket öffnet, darin eine Weinflasche mit Hitler auf dem Etikett. „Was wollen Sie denn mit dieser Scheißflasche?“, fragt Eugen. „Sie müssten doch wissen, was in Dachau passiert ist.“ - „Ist doch alles Propaganda“, entrüstet sich der Briefträger. „Lassen Sie sich nicht das Märchen von den sechs Millionen Juden einreden.“ Eugen unternimmt auch Spaziergänge mit anderen alten Nazis. „Das Bedrückendste ist“, sagt er, „dass das alles nette, liebe Leute waren. Dass man einem Kopf nicht ansieht, wie viel braune Scheiße darin steckt.“ Und er beginnt, seine Geschichte aufzuschreiben. Tatjana Wulfert
Dreifaltigkeitsfriedhof II an der Bergmannstaße in Berlin-Kreuzberg. Foto: Doris Spiekermann-Klaas