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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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„Aber wie kann ich woanders leben, aber wie kann ich leben ohne mich?“

Nachruf auf Don Askarian (Geb. 1949)
Sprich, Erinnerung, sprich“, flehen die Dichter zu allen Zeiten, weil sie mit Worten jene Bilder aus dem Dunkel des Vergessens hervorrufen wollen, jene Düfte und Klänge, die uns die Tage der Kindheit wiederbringen. Das Geräusch der reifen Maulbeeren, die auf Stoff regnen, aufgespannt bei der Ernte, wenn mit Stangen in die Bäume geschlagen wird. Der Geschmack der Maulbeeren, süß, saftig, und das Rufen der Brüder, die nach ihm suchten, weil er auf sie achten musste, vier jüngere Brüder, während er doch so viel lieber in den Bäumen saß und Bücher las. Geräusche, die Heimat sind, wie die Bilder der Landschaft.
Stepanakert, Hauptstadt von Bergkarabach, umgeben von schwarzen Wäldern und weiten Wiesen. Glasklare Bäche, aus denen sich das Wasser mit der Hand schöpfen ließ, ehe Jahre später Blut darin floss, als Armenier und Aserbaidschaner, Nachbarn noch am Vortag, sich niederknüppelten. Zehntausende starben, Hunderttausende flohen. „Aber wie kann ich woanders leben, aber wie kann ich leben ohne mich? Wo es doch woanders keine Kindheit gibt, die aus jedem Stein, jedem Bach mit meinen Augen in meine Augen schaut“, fragt ein Mann in jenem Film, der Don Askarian berühmt machen sollte: „Komitas“.
Vater und Mutter waren stolz auf ihren Sohn, der in die Welt hinauswollte, über die er in den Büchern so viel gelesen hatte. Er wollte ein Künstler werden wie die Dichter, ein Maler, einer der Bilder schafft, die im Gedächtnis bleiben, bewegende Bilder, bewegte, er wollte Filme drehen. Don zog nach Moskau, studierte Geschichte und Literatur, aber sein eigentlicher Vorlesungssaal war das Kino „Illusion Cinema“, in dem er Truffaut begegnete und Hitchcock und jene Sprache des Films erlernte, in der sich viel mehr ausdrücken lässt als nur mit Worten.
Er verweigerte den Dienst in der Armee, was ihm zwei Jahre Gefängnis einbrachte, eine harte Zeit, über die er sich ausschwieg. Er wurde in Eriwan inhaftiert, was sein Glück war, denn in der Verbannung fand er Margarita, die ihm den Weg in sein neues Leben wies. Liebe ist ein Déjà-vu, die Begegnung mit dem Menschen, den du schon immer gekannt hast. Don beteuerte, mit 17 in Eriwan auf der Durchreise ein Mädchen gesehen zu haben, er beschrieb ihr Kleid, ihre Schuhe, ihr Lächeln. Damals dachte er: Dieses Mädchen wird irgendwann meine Frau. Da war sie elf. In der Post trafen sie sich wieder, Jahre später, sie sahen sich, und sie liebten sich.
Als Verbannter durfte er keinen Kontakt zu Einheimischen haben. Eine gefährliche Liebe in einem Land, in dem er als Vorbestrafter ohnehin nie der hätte werden können, der er sein wollte, Filmemacher. Wir gehen für immer weg, beschlossen sie und beantragten gemeinsam die Ausreise, sie die Jüdin, er der Armenier. Über Wien, wo ihre Tochter geboren wurde, reisten sie illegal weiter nach Berlin, „Der Meister und Margarita“. Sie, die Virtuosin, bestritt als Klavierlehrerin den Lebensunterhalt für beide. Don tat, wovon er träumte. Tag für Tag sammelte er Eindrücke auf seinen Spaziergängen, er las die großen Bildbeschwörer, Dante, Proust, Nabokov, und er schrieb auf, was er auf der Leinwand sehen wollte. Er drehte mit wenig Geld einen Film nach Tschechows Einakter „Der Bär“, ein Stück über die Liebe und die seltsamen Wege, die sie geht.
Der Film wurde vom Fernsehen gekauft, und Don Askarian konnte den Film realisieren, der sein Leben und das seines Volkes ins Bild setzte: „Komitas“. Margarita und er gründeten eine Filmproduktionsgesellschaft, sie fanden europäische Partner, die dem Vorhaben vertrauten. Das Drehbuch las sich wie ein Krimi, aber der Film ist alles andere als das, ein Bilderreigen. „Komitas“: die Geschichte des armenischen Mönchs und Komponisten, der gerettet wurde, als alle anderen Armenier starben. Der ins Irrenhaus ging, irre geworden an der Welt, aber nicht verrückt, nur einsam, weil er sein Gedächtnis verloren hatte. Oder weil er sich nicht erinnern wollte an all das Grauen, das er gesehen hatte. Der Musiker Komitas, der die Lieder seines Volkes gesammelt hatte. 3000 dörfliche Gesänge, Lieder der Liebe und der Arbeit und der Trauer über die Vertreibung. Lieder über den Kranich, den Aprikosenbaum und das leere Haus, aus dem die Landsleute hinausgejagt wurden. Wer sollte diese Geschichte erzählen können, die sich nicht erzählen lässt, weil unser Verstand begreifen will, was sich nicht begreifen lässt, dass Menschen einander so viel Leid zufügen.
Don Askarian hätte die Musik Komitas' erklingen lassen können, aber in dem Film ist keines seiner Lieder zu hören. Es sind auch keine monologischen Klagen zu hören, keine moralisierenden Dialoge, keine großen Gesten wollen den Zuschauer aus seiner Lethargie reißen, keine aufdringlichen Symbole das blutige Grauen ins Bild setzen. „Ich bin gegen Symbole“, bekräftigte Don Askarian immer wieder, „denn sie sind erniedrigend.“ Dinge sind Dinge, Regen ist Regen, und das Geräusch des Regens ist schöner und tröstender als jede Filmmusik, Regen ist Musik. Töne sind Erinnerungen. „Genau vor 30 Jahren und 30 Tagen, an einem Sommernachmittag, löste sich eine reife Birne vom Baum in meines Großvaters Garten und begann langsam, unglaublich langsam zu fallen. Die Gärten der Heimat wurden zu Müllkippen.“
Don Askarian stellte den Film nicht in den Dienst der Moral. „Man darf seine Liebe zum Film nicht verraten, und das würde man tun, wenn man den Film für irgendeine Ideologie missbraucht, auch für eine humane.“ Die Freude an dem Film als Film, so traurig er ist, sollte den Zuschauern Auge und Herz öffnen und ein Gespür geben für den Verlust der Heimat. „Wo man doch woanders die Seele in der eigenen Asche nicht segnen kann. Wo man doch woanders mit seinem Schicksal nicht hadern kann. Wo doch woanders die Müdigkeit nicht so sehr verdient ist. Wo es doch woanders keine Sonne in dem Schnee und in der Sonne nicht so viel Schnee gibt. Wo es doch woanders keine Kindheit gibt.“
Don Askarian ging mit dem Film auf Reisen, auf Dutzenden Festivals wurde er gezeigt und heftig diskutiert, denn Don konnte sehr barsch sein. „Wir müssen konkreter werden“, forderte er in Gesprächen immer wieder. Ein Bild der Liebe? Das ist die Bauernfrau, die einem Lämmchen ihre Brust gibt, weil es hungrig ist und seine Mutter keine Milch geben will.
Ein Bild der Unerschütterlichkeit, das ist der Berg Ararat, den er in 14 Ansichten porträtierte, so wie der Maler Hokusai es seinerzeit in den 36 Ansichten des Berges Fuji tat. Immer auf der Suche nach Bildern, die bleiben: der Winter in Dilijan, der frühe Morgen in Gulistan. Impressionen der alten römischen Straße, auf der die Heimatlosen wanderten. Einzelgänger wie Avetik, der in einem späteren Film porträtierte Flüchtling, der auf die Frage nach seiner Heimat niemals sagen würde: Ich lebe in Berlin. Er würde sagen: Ich habe eine Adresse in Berlin.
Don konnte sehr fordernd sein beim Filmemachen, weil er sich nie an die Vorgaben hielt. Er vertraute darauf, dass die Bilder zueinanderfanden, in einem Akt der Komposition, der nur der Liebe zum Gesehenen verpflichtet ist. „Einen Film, den man erzählen könnte, braucht man nicht zu drehen.“ Wie ein Jagdhund war er auf der Suche nach Bildern, brutal, rücksichtslos, zärtlich bis zur Selbstvergessenheit: Er liebte, was er tat, weil er die Liebe, dieses unerweckte Gefühl in allen Dingen, seine Zuschauer spüren lassen wollte. Don Askarian ging zurück nach Armenien, fand eine neue Frau, zeugte einen Sohn, kehrte zurück nach Berlin, blieb dennoch einsam, auch wenn er immer wieder gebeten wurde, seine Filme in aller Welt vorzustellen. Aber die Sehnsucht nach den Augenblicken, die bleiben und verweilen, ist unerfüllbar, wenn die Heimat nicht mehr die ist, die sie einmal war, die Wiege der Träume vom Gehen und Kommen und von der Heimkehr. „Aus dem Grabe werde ich kommen, von einem fernen Planeten werde ich kommen - und den Staub der Milchstraße auf deine Schwelle schütten.“ Gregor Eisenhauer