Je älter sie wurde, desto öfter sprach sie über ihren Bruder
Nachruf auf Ingrid Juds-Varduhn (Geb. 1938)
Ein Bild hängt an ihrer Wand. Ein anderes steckt in ihrem Kopf. Das Bild an der Wand ist ein Foto ihres jüngeren Bruders Wolfgang, vielleicht mit 13. Auf dem Bild in ihrem Kopf ist er 16 und lehnt im Juni 1945 am Gartenzaun vor dem elterlichen Haus in Lübben im Spreewald: „Und da sah mein Bruder ein Auto auf der anderen Straßenseite stehen. Und er wollte auf das Haus zugehen, und in dem Moment kamen zwei oder drei Russen heraus und stürzten sich auf ihn. Er war ohnmächtig und sie haben ihn in das Auto geworfen. Kurz bevor sie das Auto in Gang bekommen haben, kam er wieder zu Bewusstsein, ganz matt guckte er aus der Scheibe und versuchte die Hand zu heben, zum Winken. Das war der letzte Blick, dann hat ihn niemand mehr von uns gesehen.“
Wolfgang Varduhn wurde in das sowjetische Speziallager Ketschendorf gebracht. Wahrscheinlich ist er erfroren oder verhungert. Er soll der NS-Untergrundorganisation „Werwolf“ angehört haben. In seiner Akte aber steht hinter den Worten „Grund der Verhaftung“ ein Strich. Einblick in die Akte erhielt die Familie erst Jahre später. Erfuhr auch erst Jahre später, dass er 1947 im Lager gestorben war. Es musste geschwiegen, es durfte nicht getrauert werden, um den Sohn, den Bruder.
Je älter Ingrid Juds-Varduhn wurde, desto öfter sprach sie von Wolfgang. Das Unrecht des sowjetischen Geheimdienstes, die Brutalität der Soldaten konnte sie nicht vergessen. Ihren Abscheu übertrug sie auf die DDR. Und auf die Weltrevolution, die einige Studenten in den 60er Jahren ausriefen. Sie hatte sich an der FU für Jura eingetragen und Bernd Juds, ihren späteren Mann, getroffen. Hatte mit ihm und Rudi Dutschke zusammen auf demselben Flur gewohnt, war auf Vietnam-Demonstrationen mitgelaufen und wollte die Vergangenheit der Väter aufarbeiten. Aber sie verstand Dutschkes Hinwendung zum Marxismus nicht, der in ihren Augen immer in einer militanten Diktatur enden würde. Sie war durch und durch Pazifistin, verließ 1999 die SPD, als sich die Bundeswehr an den Luftangriffen der NATO in Jugoslawien beteiligte.
Der schillernde Intellektuelle, der Geistesmensch in ihrer Ehe jedoch war Bernd Juds. Er schrieb Hörspiele, Radio-Features und Reisereportagen, fuhr nach Nordafrika und Südamerika. Und sie begleitete ihn, verschob zig Mal ihr Examen, auch aus gesundheitlichen Gründen, vor allem aber, um bei ihm zu sein. Wenn sie mit Gästen zusammen saßen, sprach zumeist er. Er nahm sie mit ins Theater und in die Oper, gründete die Mozartgesellschaft Berlin-Brandenburg. Sie arbeitete als Juristin bei einer Immobiliengesellschaft, war die Praktische von beiden, die darauf achtete, dass er pünktlich zu seinen Terminen erschien. Sie unterstützten Immigranten, Pakistaner, eine türkische Familie, begleiteten sie auf Ämter, übersetzten, luden sie ein. Im Winter fuhren sie nach Wien und tanzten auf dem Opernball. Jeden Abend las er ihr eine Geschichte vor, und sie schlief ruhig ein. Dann starb er, und sie konnte nicht mehr schlafen. Sie trauerte auf die Weise türkischer Frauen, wie ihre türkische Freundin es ihr erklärt hatte: Räumte nicht auf, kochte nicht, lief nicht herum.
Irgendwann nahm sie wieder ein Staubtuch in die Hand, kochte sich eine Suppe, trat hinaus. Sie sah in den Augen der Männer, dass sie schön war. Sprach jetzt, wenn sie mit Gästen zusammen saß.
Es gelang ihr, das Haus in Lübben, in dem noch immer ihr Geburtsbett stand, zurückzubekommen. Ihre Eltern hatten einen Gasthof betrieben, direkt am Kanal. Ingrid investierte, wollte ein Hotel eröffnen. Die Architekten sagten, ihr Plan sei idealistisch. Sie vermietete die Räume, fuhr ständig hin und her, wurde um viel Geld betrogen, hatte das Gefühl, alles wachse ihr über den Kopf.
Und dann lernte sie Reinhard kennen. Er war Handwerker, er ging mit ihr tanzen, er war da, sieben Jahre lang. Aber auf die Feste, die die alten Freunde von Bernd gaben, nahm sie ihn nicht mit.
Niemand war auf ihren Tod gefasst gewesen, nicht Reinhard, nicht die alten Freunde. Sie hatte einige Tage nicht zu Hause verbracht, hatte vielleicht ihre Herzmedikamente vergessen. Tatjana Wulfert
Wolfgang Varduhn wurde in das sowjetische Speziallager Ketschendorf gebracht. Wahrscheinlich ist er erfroren oder verhungert. Er soll der NS-Untergrundorganisation „Werwolf“ angehört haben. In seiner Akte aber steht hinter den Worten „Grund der Verhaftung“ ein Strich. Einblick in die Akte erhielt die Familie erst Jahre später. Erfuhr auch erst Jahre später, dass er 1947 im Lager gestorben war. Es musste geschwiegen, es durfte nicht getrauert werden, um den Sohn, den Bruder.
Je älter Ingrid Juds-Varduhn wurde, desto öfter sprach sie von Wolfgang. Das Unrecht des sowjetischen Geheimdienstes, die Brutalität der Soldaten konnte sie nicht vergessen. Ihren Abscheu übertrug sie auf die DDR. Und auf die Weltrevolution, die einige Studenten in den 60er Jahren ausriefen. Sie hatte sich an der FU für Jura eingetragen und Bernd Juds, ihren späteren Mann, getroffen. Hatte mit ihm und Rudi Dutschke zusammen auf demselben Flur gewohnt, war auf Vietnam-Demonstrationen mitgelaufen und wollte die Vergangenheit der Väter aufarbeiten. Aber sie verstand Dutschkes Hinwendung zum Marxismus nicht, der in ihren Augen immer in einer militanten Diktatur enden würde. Sie war durch und durch Pazifistin, verließ 1999 die SPD, als sich die Bundeswehr an den Luftangriffen der NATO in Jugoslawien beteiligte.
Der schillernde Intellektuelle, der Geistesmensch in ihrer Ehe jedoch war Bernd Juds. Er schrieb Hörspiele, Radio-Features und Reisereportagen, fuhr nach Nordafrika und Südamerika. Und sie begleitete ihn, verschob zig Mal ihr Examen, auch aus gesundheitlichen Gründen, vor allem aber, um bei ihm zu sein. Wenn sie mit Gästen zusammen saßen, sprach zumeist er. Er nahm sie mit ins Theater und in die Oper, gründete die Mozartgesellschaft Berlin-Brandenburg. Sie arbeitete als Juristin bei einer Immobiliengesellschaft, war die Praktische von beiden, die darauf achtete, dass er pünktlich zu seinen Terminen erschien. Sie unterstützten Immigranten, Pakistaner, eine türkische Familie, begleiteten sie auf Ämter, übersetzten, luden sie ein. Im Winter fuhren sie nach Wien und tanzten auf dem Opernball. Jeden Abend las er ihr eine Geschichte vor, und sie schlief ruhig ein. Dann starb er, und sie konnte nicht mehr schlafen. Sie trauerte auf die Weise türkischer Frauen, wie ihre türkische Freundin es ihr erklärt hatte: Räumte nicht auf, kochte nicht, lief nicht herum.
Irgendwann nahm sie wieder ein Staubtuch in die Hand, kochte sich eine Suppe, trat hinaus. Sie sah in den Augen der Männer, dass sie schön war. Sprach jetzt, wenn sie mit Gästen zusammen saß.
Es gelang ihr, das Haus in Lübben, in dem noch immer ihr Geburtsbett stand, zurückzubekommen. Ihre Eltern hatten einen Gasthof betrieben, direkt am Kanal. Ingrid investierte, wollte ein Hotel eröffnen. Die Architekten sagten, ihr Plan sei idealistisch. Sie vermietete die Räume, fuhr ständig hin und her, wurde um viel Geld betrogen, hatte das Gefühl, alles wachse ihr über den Kopf.
Und dann lernte sie Reinhard kennen. Er war Handwerker, er ging mit ihr tanzen, er war da, sieben Jahre lang. Aber auf die Feste, die die alten Freunde von Bernd gaben, nahm sie ihn nicht mit.
Niemand war auf ihren Tod gefasst gewesen, nicht Reinhard, nicht die alten Freunde. Sie hatte einige Tage nicht zu Hause verbracht, hatte vielleicht ihre Herzmedikamente vergessen. Tatjana Wulfert