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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Bloß nicht so werden wie die Mutter! Bloß nicht dem Entwurf des Vaters folgen

Nachruf auf Marika Raake (Geb. 1942)
Wie wird aus dem Mädchen eine Frau, wie aus der Tochter eine Mutter? Und was, wenn die eigene Mutter schwach und krank war und der Vater einer, der, was er hätte sein können, nie geworden ist?
Man kann die schwierigen Seiten betonen. Dass auch Marika, weil sie nicht studieren konnte, nie geworden ist, was sie womöglich hätte werden können. Dass sie mit ihren Rollen überfordert war, Mutter sein und Geld verdienen und der Sehnsucht folgen, mehr zu sein, mehr zu erleben.
Das ist alles richtig. Und es ist alles falsch.
Auf dem Land ist sie aufgewachsen, in einem Kaff, in dem die Leute auf die Leute schauen, in dem sich jeder seins denkt, vor allem: Was werden bloß die Leute denken. Ihr Vater hatte einen Sinn fürs Musische, er zeichnete, er liebte die Musik. Aber wer kann schon tun, was er gern täte, zumal in solchen Zeiten? Er war im Krieg und erzählte später nichts davon. Er war gelernter Melker und fuhr mit einer Maschine zum Milchkannenentbeulen über die Dörfer. So sorgte er für die Familie, indem er selten bei ihr war. Er liebte seine Tochter, so sehr, dass er ihr verbot, länger zur Schule zu gehen als unbedingt nötig. Am Geld lag es nicht; mit ihren Noten hätte sie ein Stipendium bekommen. Der Vater wollte sie nicht weggeben in eine andere Welt als seine. Und, schlimm genug: Du wirst doch heiraten, mein Liebes
Sie drohte, für immer zu verschwinden; erst dann ließ er sie zur Erzieherinnenausbildung in die Stadt. Warum Erziehung? Womöglich, weil sie selbst so wenig davon erlebt hatte. Ihre Mutter blieb ihr vor allem als die Depressive in Erinnerung, die Frau, die im Bett lag oder in der Küche saß und langsam mit der Hand über die Tischdecke strich. Ein einziger Vorwurf an das Kind: Wenn du brav und gehorsam wärst, ginge es deiner Mutter besser.
Ihr Gegenprogramm: Raus in die Welt! Mit 22 ging sie nach Paris und landete als Au-pair-Mädchen in der Familie eines alten, etwas durchgeknallten Generals. Auch der wird ihr Bild von der Männerwelt geprägt haben. Die Begegnung mit Männern der eher weltfremden, fordernden Art zieht sich wie ein Grundthema durch ihr Leben. Stets war es an ihr, die Dinge zu richten. Bloß nicht so werden wie die Mutter! Bloß nicht dem Entwurf des Vaters folgen.
Ja, sie heiratete, sehr bald sogar. Aber was für einen. „Märchen“ hieß er, eigentlich Artur Raake, aber jeder nannte ihn nur Märchen. Weil er Märchenfiguren malte und andauernd Märchen erzählte, vornehmlich, um Kredit zu kriegen: Zahl mir mein Bier, du wirst es nicht bereuen! Märchen war der König von Kreuzberg, oder sagen wir, einer der vielen Könige von Kreuzberg. Suffkopp, Künstler, Macho, hoch die Tassen, morgen kauf' ich den Laden auf! Logisch, dass sie auf den stieß. War ja ins ummauerte Berlin gekommen, um die weite Welt zu erleben. Wo sonst als in den engsten und verqualmtesten Kneipen sollte sie danach suchen? Wen sonst sollte sie da anhimmeln? Märchen verhieß Freiheit. Kunst. Leben. Darum geht's doch, oder?
Märchen machte Marika schwanger, deshalb die Heirat nach guter alter Sitte. Nach guter alter Sitte kümmerte sich Märchen einen Dreck ums Kind. Nicht mal aus der Geburtsklinik holte er Mutter und Tochter ab. Nicht so ganz der guten alten Sitte entsprach die sonstige Rollenverteilung. Marika musste sich ums Geldverdienen kümmern, denn Märchen war ja fürs Ausgeben zuständig.
Überliefert ist die Episode, wie Marika zur Arbeit musste und die Tochter, Caterina, bei Märchen ließ. Die Milchflasche stand im Kühlschrank. Und stand da immer noch, unangetastet, als Marika am Abend heimkehrte. Märchen: Das Kind hat ja nicht geschrien.
Nach einem Ehejahr war sein Charme aufgebraucht, Marika warf ihn raus. Seinen bürgerlichen Namen, Raake, behielt sie, außerdem die Lust aufs Malen. Nach der Trennung fing sie so richtig damit an und hörte nicht mehr auf. Vom Stil her - fantastisch, humorvoll, ein bisschen naiv - würde sie gut zu den „Berliner Malerpoeten“ passen. Märchen wird als solcher katalogisiert. Jedoch fehlte ihr der literarische Mitteilungsdrang; die Doppelbegabung aber war Aufnahmevoraussetzung des Künstlerkreises. Dafür war sie, später dann, mit ihren Bildern viel erfolgreicher als Märchen. Was auch ein Grund gewesen sein mag, warum er nicht so gut auf sie zu sprechen war.
Im Jahr 1979 entstand ein Film über sie und ihre Tochter, „Marika und Caterina“. Zum Schluss setzt Marika sich an einem Sommertag vor ihre graue Mietskaserne, malt ein Bild, und freundliche Nachbarn kommen vorbei, alle freuen sich. Ein Kreuzberg-Idyll, das in einem merkwürdigen Gegensatz steht zu der Ehrlichkeit der Szenen davor. Da spricht eine durch und durch selbstständige Frau über ihre Schwäche. Sie sorgt für sich und ihre rebellierende Tochter, sie arbeitet als Erzieherin in einer Kita, sie malt, sie hat mal wieder einen Kerl vor die Tür gesetzt. Und dann hockt sie an ihrem Küchentisch und erzählt von ihrer Angst, die Dinge zu versemmeln, wie sie es bei ihrer Mutter erlebt hat. Die schwache, kranke Mutter, die der Tochter das Gefühl gab, schuld zu sein. Jetzt ist sie selbst Mutter und fühlt sich oft schwach. Caterina ist 13 und folglich altklug und schwierig. Sie droht mit dem Schlimmsten: zum Vater zu ziehen, ausgerechnet zu dem! Der Mutter entfliehen, das wollen sie beide, Marika und Caterina.
Fast 40 Jahre später erzählt Caterina, wie es damals war und wie es weiterging. Sie ist tatsächlich zu ihrem Vater gezogen. Und schnell wieder zurück. Warum aber wollte sie weg? Sie hatte oft das Gefühl, nicht an erster Stelle zu stehen. Wenn sie nachts aufwachte, und die Mutter war nicht da. Wenn die Mutter genervt war, wovon auch immer. Wenn sie Caterina mit zu ihren Demonstrationen nahm. Wenn sie sie ihre Bilder in die Höhe halten ließ, um sie abzufotografieren, „Jetzt halt' doch mal still!“ Auch der Unwille oder die Unfähigkeit, Grenzen zu setzen, verbrämt mit dem Attribut „antiautoritär“: Mit Geborgenheit und Fürsorge hatte das wenig zu tun.
Als sie 15 war, wollte Caterina wieder fort, freiwillig in ein Heim. Sie suchte sich das strengste aus, ein evangelisches bei Flensburg, nicht gerade um die Ecke. Und es tat ihr gut.
So gut, dass sie sich auch an eine Mutter erinnern kann, die früher stundenlang mit ihr gebastelt, ihr über den Rücken gestrichen hat und für sie da war. An eine Frau, die mit einer übergroßen Energie ihren Weg gesucht hat. Die in Sackgassen gerannt ist, sei es die Zeit bei den kommunistischen Sektierern, seien es ihre Liebschaften. Und immer wieder ist sie umgedreht und weitergerannt. Bei der K-Gruppe hat sie nach zwei Jahren den Absprung geschafft. Die Beziehungen hat immer sie beendet. Die Männer haben sie entweder mies behandelt, oder sie brauchten eher eine Mutter als eine Geliebte.
Die Enge ihrer Herkunft steckte ihr tief genug in den Knochen, dass sie immer weiter das Weite suchte, immer neue Menschen kennenlernte, in die Welt zog, monatelang durch Brasilien und Marokko, jahrelang nach Portugal. Da war sie frei, hat ihre Bilder gemalt und ihre Bilder verkauft. Wegen ihrer Lungenkrankheit kehrte sie zurück nach Kreuzberg. Außerdem: „Dieser ewig blaue Himmel geht mir langsam auf die Nerven.“
Es gibt noch eine Menge Bilder von ihr, über die Internetseite marika- raake.de stößt man auf ein paar hundert. Das Huhn mit Schlittschuhen und Fisch auf dem Kopf, die Gekreuzigte mit den elegant gekreuzten Beinen, das weinende Blau, der Tod als bemitleidenswerter Wurm unter einer roten Sonne.
Caterina, ihre Tochter, hat sich ein anderes über die Couch gehängt. Ein schwarzer Käfer sitzt auf einem Kissen, hält einen Stab mit einem Stern in den Händen, guckt grinsend und mit großen Augen den Betrachter an und könnte sagen: Okay, jetzt ist sie tot, aber eigentlich ist's doch gut ausgegangen.David Ensikat
Dorotheenstädtischer Friedhof II an der Liesenstraße in Berlin-Wedding. Foto: Doris Spiekermann-Klaas