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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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„Mit der Fehlbarkeit des Menschen ist zu rechnen“

Nachruf auf Ulrich Schröter (Geb. 1939)
Das war er, der wirklich letzte Moment. Noch war eine Entscheidung möglich. August 1961, Ulrich stand vor der Mauer, sie war erst ein paar Tage alt, in Windeseile hochgezogen. Wollte er zurück in die DDR? Sein Bruder hatte sich schon entschieden. Er blieb im Westen.
Eigentlich waren die beiden ja nur für eine kleine Radtour in Bayern gewesen, in den Bergen. Da hatten sie Lust drauf, das haben sie einfach gemacht, sind ohne Genehmigung über West-Berlin dorthin. Und mittendrin erreichte sie die Nachricht, die alles veränderte: Die Mauer stand, und keiner konnte mehr raus.
Was also tun, bleiben oder gehen? Im Westen würde vieles einfacher sein. Ulrich studierte Theologie und wollte ein Mann der Kirche werden. Da musste er in der DDR mit Gegenwind rechnen. Aber in der DDR war er zu Hause. Dort lebten seine Eltern, seine Freunde und seine Freundin. Wer weiß, vielleicht würden sie ja heiraten und Kinder bekommen. Ulrich zögerte. Schaute seinen Bruder an. Schaute die Grenze an. Dann gab er sich einen Ruck und ging auf die Soldaten zu. Noch freuten sie sich über jeden, der zurückkam. Eine Strafe gab es nicht.
Ulrich hatte so eine Abenteuerlust in sich. Sie verführte ihn ständig, Dinge einfach zu tun. Als ob er Angst gar nicht kannte, Konsequenzen nie scheute. Ein halbes Jahr hatte er illegal in Heidelberg studiert, 1960 war das. Ein Auslandssemester, das er sich selbst genehmigt hatte. Ein anderes Mal kletterte er in eine Ausgrabungsstätte, trotz Verbotsschild, trotz Zaun. Sie erwischten ihn, sie schimpften, doch ihm fielen schnell ein paar Ausreden ein, die er mit ein paar historischen Fachwörtern schmückte. Am Ende waren der Ausgrabungsleiter und er dicke Freunde, und Ulrich bekam sogar ein Buch geschenkt.
Ein Menschenfreund: Sah er ein neues Gesicht unter den Kommilitonen, später in der Kirche, im Chor, dann ging er hin, stellte sich vor und holte den Neuen in die Runde. Als er Hebräisch und Altgriechisch unterrichtete, ließ er seine Studenten nie mit dem schwierigen Stoff allein. Er übte mit ihnen stundenlang und dachte sich Vokabel-Eselsbrücken für sie aus.
Am Anfang gefiel er ihr überhaupt nicht. Dieser Neue im Katechetischen Oberseminar Naumburg, eine Ausbildungsstätte der Kirche, vom Staat akzeptiert, als offizielle Universität mit offiziellen Abschlüssen aber nicht anerkannt. Frech kam er ihr vor, wie er da erschien, seine Koffer in der Straßenbahn, er auf dem Fahrrad hinterher. Eine große Klappe hatte er auch, wusste immer alles oder tat zumindest so. Und war trotzdem bei allen beliebt. Sie wählten ihn zum Vertrauensstudenten. Zwei davon gab es, einen Mann und eine Frau. Die Frau war sie.
Er hatte was Ernstes, Tiefgründiges, machte sich wirklich Gedanken und wollte den Dingen auf den Grund gehen. Das gefiel ihr. Sie befreundeten sich, sie wurden ein Paar, 1965 heirateten sie, 1966 kam der erste Sohn auf die Welt. Sie zogen in eine Wohnung, die war im Winter so kalt, dass sie alles, was nicht einfrieren sollte, in den Kühlschrank taten.
Ulrich trat sein Vikariat an, hätte danach Pfarrer werden können, doch noch mehr lockten ihn die Wissenschaft, das Erforschen der Schriften, das Alte Testament und die alten Sprachen. Er wollte verstehen, was damals war. Wollte die Quellen lesen. Denn nur wer das Original kennt, kann auf Lügen und Verfälschungen nicht reinfallen, so sagte er.
Dann wurde sein zweiter Sohn geboren, Martin. Er wuchs, ging in den Kindergarten, in die Schule. Das Familienglück schien perfekt. Vier Wochen nach der Einschulung bekam Martin furchtbare Bauchschmerzen. Es war Freitagnacht, er hatte Fieber, es stieg und stieg. Martin kam ins Krankenhaus, ein Darmverschluss, sie konnten nichts mehr tun. Am Sonntag starb er. Jedes Jahr, zum 1. Oktober, zu seinem Geburtstag, stellten sie eine Kerze auf, holten sein Foto heraus, erinnerten sich an ihn. Er war Teil der Familie, er blieb es und ist es bis heute.
Noch ein Sohn kam auf die Welt. Mit dem ging Ulrich immer zum Fußball. Zu Union, das war Pflicht, aber manchmal auch zum BFC Dynamo, dem Stasiklub. Hauptsache Fußball. Er selber spielte jeden Mittwoch mit seiner Kirchenmannschaft. Er stand im Tor, warf sich jedem Ball hinterher, ließ den Schlamm hoch spritzen und holte die Gegenspieler von den Beinen. Da lebten sie schon in Berlin, im Pfarrhaus der Erlöserkirche der Paul-Gerhardt-Gemeinde in Lichtenberg, Zentrum der DDR-Friedensbewegung, gut überwacht durch den Geheimdienst. Hier gab es als Gottesdienst getarnte Konzerte, von hier aus gingen Demonstrationen los.
1990 dann, nach dem Fall der Mauer, stand Ulrich in den Aktenbergen der Stasi und sollte mitentscheiden, was mit ihnen geschehen sollte. Er war der Vertreter der Kirche im „Staatlichen Komitee zur Auflösung des ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit“. Aufheben oder vernichten. Geheim halten oder öffentlich machen. Was bedeutete das eine, was das andere, darum ging es. Da war die Frage, was mit den elektronischen Datenträgern des MfS geschehen sollte. Schröter war für die Zerstörung, weil er einen Missbrauch fürchtete. Oder was mit den DDR-Geheimagenten im Westen geschehen sollte. Schröter war für ein heimliches Zurückziehen, da der Westen seine Geheimagenten ja auch nicht enttarnen würde. Die ganz große Frage war jedoch, was mit den Aktenbergen geschehen sollte, also jenen Informationen, die die Stasi über die normalen Bürger zusammengetragen hatte. Ulrich Schröter war dafür, sie zum Teil der Wissenschaft, aber nicht den Betroffenen selber zu geben. Er befürchtete, dass Familien zerbrechen, die Gesellschaft auseinanderfallen würde. Später sah er, dass er sich geirrt hatte. Zu seinen Fehlern stehen, anderen deren Irrtümer nachsehen, das konnte er.
Er schrieb wichtige Bücher, „Das Ministerium für Staatssicherheit. Anatomie des Mielke-Imperiums“ zum Beispiel und ein Buch über Manfred Stolpe, den ehemaligen Kirchenmann unter Stasi-Verdacht. Das Wichtigste überhaupt: Ulrich brachte es zustande, dass ehemalige Geheimdienstler und deren Opfer sich zusammensetzten. Einmal im Monat trafen sie sich in der Kirche, im Stuhlkreis bei Zitronen-Krümeltee, Ulrich moderierte, und ein jeder berichtete aus seinem Leben, warum er was getan hatte, und wie es ihm dabei gegangen war. Das konnte heftig werden. Es wurde gebrüllt, Anschuldigungen wurden durch den Raum geworfen. Doch Ulrich beruhigte die Gegner von einst und ließ sie weitersprechen. Mit seiner Autorität, mit seinem Interesse an jedem einzelnen. „Er war sozusagen die sachliche und vor allem menschliche Brücke zwischen politischen Gegnern“, schrieb ein ehemaliger Stasi-Offizier.
Ulrich sagte dazu selber: „Erstens, mit der Fehlbarkeit des Menschen ist zu rechnen. Und zweitens, Vergebung ermöglicht einen Neuanfang. Deshalb darf ich auf den anderen zugehen. Er verdient nicht den Fußtritt. Er verdient meine Zuwendung, denn wir wissen immer noch zu wenig voneinander. Ich weiß, der Mensch ist fehlbar, und ich bin es selbst auch.“ Neun Jahre lang wird es diese Gespräche geben, fünf Jahre wird er Monat für Monat ein Heft dazu rausgeben. „Zwie-Gespräche“ heißt es.
Viel könnte man noch über ihn erzählen. Wie er an Hebräisch-Lehrbüchern arbeitet, wie er über klassische Musik schreibt. Wie ihn sein Forschertum immer weiter drängt, diszipliniert, Tag für Tag gleich morgens am Schreibtisch. Doch die letzte Erzählung sei seiner letzten Unternehmung gewidmet. Februar 2018, es ging in den Iran, eine Studienreise. Ulrich hatte Magenprobleme und litt noch unter den Folgen einer frisch verheilten Lungenentzündung. Um seine Mitreisenden kümmerte er sich umso mehr. „Er dachte an alle, nur an sich selbst nicht“, schrieb einer von ihnen später. Zurück in Berlin war die Lungenentzündung wieder da. Er musste ins Krankenhaus. Nach 100 Tagen starb er. Karl Grünberg
Friedhof I der Gemeinden St. Marien und St. Nikolai an der Prenzlauer Allee in Berlin-Prenzlauer Berg. Foto: Doris Spiekermann-Klaas