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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Narziss wie du und ich, nur nackt und unbegabt, seinen Narzissmus zu verbergen

Nachruf auf Paul Gratzik (Geb. 1935)
Ein alter Mann gerät außer sich. Er trägt ein weißes Hemd, Schlips, Hut mit breiter Krempe, ein Mann von Welt. Er sitzt im Boot, rudert und gibt Auskunft - oder auch nicht.
Die Frage, wie das damals war, als er über Menschen, die er gemocht hat, Dinge aufschreiben sollte. „Da gibt's nur einen Bericht über einen, der mir sehr nah war. Weil ich letztlich im Grunde meines Herzens immer den Satz meiner Mutter hatte: Der größte Feind im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant. Klar? Dieses Wort ist nie aus mir rausgekommen. Das hat immer genagt. Das konnte ich nie zudecken Ich hatte gute Gründe, diese Arbeit zu machen.“
„Aber genagt hat der Satz deiner Mutter an dir?“
„Schluss jetzt! Der hat nicht genagt! Ich hab viel zu wenig Leute angeschissen. Bist du jetzt zufrieden?“
„Nee. Es geht nicht darum “
„Es geht nicht darum. Ich geh über Bord! Ich höre diese scheiß westdeutschen Fragen genau raus. Denk mal nicht! Ich hab kein Gewissen, und ich hab keine Moral. Jedenfalls nicht eure. Verflucht nochmal! Warum lass ich mich bloß so hinreißen?“
Die Fragen sind nicht westdeutsch, sein Gewissen, seine Moral nicht ostdeutsch. Da gibt es keinen Riss zwischen der Fragestellerin und dem Antwortgeber. Der Riss geht mitten durch den alten Mann. Die Fragen hat er sich selbst doch tausendmal gestellt, er hat sie tausendmal beantwortet: Furchtbar ist es, Menschen zu verraten. Das Gewissen wird beschmutzt. Die Sache, der man dienen wollte, wird ebenso beschmutzt. Er brauchte 16 Jahre, um das herauszufinden, er wurde zum Alkoholiker darüber und fast wahnsinnig. Er brach den Kontakt zur Stasi ab, begab sich ins sogenannte „gesellschaftliche Aus“, was bedeutete, dass seine Texte nicht mehr gedruckt und auf Bühnen gesprochen, sondern nur noch in informellen Kreisen gelesen wurden. Der Mann ließ sich nun seinerseits bespitzeln. Und fragte die Spitzel nicht, was sie da taten, denn er wusste es ganz gut.
Fast 30 Jahre später kommen diese jungen Menschen mit ihrer Kamera und fragen einfach mal so nach, wie's war. Mit der Szene im Boot beginnt der Dokumentarfilm über Paul Gratzik, „Vaterlandsverräter“, aus dem Jahr 2011. Warum er sich dazu hinreißen ließ? Wahrscheinlich aus ganz ähnlichen Gründen wie damals, als die Stasi ihn hinriss: die Genugtuung, gefragt zu werden. Das Wissen, etwas zu sagen und alles im Griff zu haben.
Ein Kind unserer Zeit, Narziss wie du und ich, nur nackt und unbegabt, seinen Narzissmus zu verbergen, seine Risse zu verdecken. Je größer die Widersprüche, desto heftiger bläst er sie dem Gegenüber ins Gesicht.
Da sitzt er in dem Boot, herausgeputzt und außer sich, schwankend zwischen Bekenntnis, Stilisierung und Verleugnung, und dann bringt er noch das Kapitalistenpack ins Spiel, die Thyssens und die Ackermänner, denen er, so sagt er, gern eine Handgranate ins Büro rollen lassen würde, Unschuldige selbstverständlich schonend: „Vorher guck ich, ob 'ne arme Sekretärin da sitzt. Dann sag ich: Heb dein' Arsch da weg, Mädchen, jetzt riecht's nach Pulverdampf!“ Einmal ein Held sein!
Ein Kerl aus einfachen Verhältnissen, der Vater im Krieg geblieben, fünf Geschwister, Flucht aus Ostpreußen, Tischlerlehre, Lehrerausbildung, Bekanntschaft mit der Schauspielerin und Urkommunistin Steffie Spira, deren junger Geliebter er wird und die ihn einführt in die Welt der Weltveränderer, so einer will er auch sein, also fängt er an zu schreiben, zeigt Talent, studiert Literatur, wird vom Studium entfernt, Arbeit in Betrieben, Arbeit an Texten, Texte aus der Welt der Arbeit, Erfolg am Theater, der Autor wird gefeiert, weil es so viele wie ihn nicht gibt: ein Angehöriger der angeblich herrschenden Arbeiterklasse, der aus Worten starke Texte machen kann. Über den Erfolg sagt er im Film: „Da ist was passiert mit mir. Da haben sie mir den Vogel eingegeben, dass ich was Besonderes bin. Dafür hab ich bitter bezahlt.“
Staatsnah - staatsfern, der Kommunismus und die Idiotie der Machthaber, Kollegen im Betrieb - Debatten am Theater; Heirat, Kind und der Ehrgeiz, viel mehr aus dem Leben zu machen; Treue und Verrat: Sein Leben ist ein einziges Wechselbad. Mit 27 hat er bei der Stasi unterschrieben. Der übliche Irrtum: Es geht um den Sozialismus. Die übliche Hybris: Ich habe das im Griff.
Im Film kommt auch der Führungsoffizier zu Wort, ein sächselnder Zyniker. Befragt nach den Nöten, in die sich sein IM begab, sagt er: „Man muss das einordnen. Was ist in der Wertigkeit höher, die staatlichen oder die persönlichen Interessen. Er hat sich für die staatlichen entschieden.“
Zuweilen fallen die Interessen ineinander. An seiner Autorenkarriere hat die Stasi keinen geringen Anteil. Sie schickt ihn in den Schriftstellerverband, sie überzeugt die Kulturfunktionäre, dass Gratziks Roman „Transportpaule“ trotz aller kritischen Tendenz veröffentlicht werden darf.
In Augenblicken des Größenwahns schwadroniert Paul Gratzik später: „Das Schreiben hab ich bei der Stasi gelernt!“ Er wäre so gern der Autor seines Lebens. Und ist dann umso erstaunter, wenn er vor der Kamera seine Berichte liest: „Oh Gott, was für ein Scheißdeutsch! Eine saumäßige Leistung.“
1978 ist das Jahr des großen Bruchs. Hinter ihm liegen die Scheidung von Frau und Tochter, die Beziehung mit einer Opernsängerin, ein Roman und die Arbeit im Dresdener Transformatoren- und Röntgenwerk sowie die Einsicht, dass man ein Leben nicht doppelt leben kann. Er beendet die Konspiration mit der Staatssicherheit, gesteht gegenüber den ihm wichtigsten Menschen, der Langzeitgeliebten Steffie Spira und dem Mentor Heiner Müller, was er getan hat. Er hat Angst, dass die Stasi ihn umbringen könnte, sein Führungsoffizier trug bei den letzten Treffen immer die Pistole bei sich. Er lässt sich eine Zeit lang in die Psychiatrie einweisen.
Und er zieht von Dresden nach Berlin. Dort kann er noch am Theater arbeiten, aber mit der Schriftstellerkarriere und der Hoffnung auf größere Anerkennung ist es ebenso vorbei wie mit dem Nimbus des schreibenden Arbeiters. In Berlin ist er nur noch Künstler. Lebenskünstler, Schwadroneur, krisengeplagter Autor. Er ist Teil der Schriftsteller-Boheme, immerhin einer, der den Flirt mit der Staatsmacht hinter sich hat. Jetzt wird er zum „Operativen Vorgang“, also zum Ziel der Überwachung: „Der Genannte verfasste mehrere literarische Texte, in denen er die sozialistischen Verhältnisse, insbesondere die führende Rolle der SED und die Schutz- und Sicherheitsorgane, diffamiert. Er nutzte Zusammenkünfte von feindlichen Personen als Plattform, um sein feindlich-ideologisches Gedankengut in der Öffentlichkeit zu verbreiten.“
Die „Öffentlichkeit“, das sind kleine Kreise, aus denen die Stasi allerdings von so vielen Quellen erfährt, für wie bedeutend sie sich halten, dass sie riesengroß erscheinen. Man debattiert über das Maß an Politik, das Kunst verträgt, über Grenzen, die bestehen bleiben auf Ewigkeit. Die einen gehen in den Westen, andere ziehen sich ins Ungefähre zurück, Paul Gratzik geht aufs Land. Ein Freund besitzt in der Uckermark einen Bauernhof, da kann er wohnen, und da wohnt er bis an sein Lebensende, allein.
Er schreibt weiter, weitgehend unbemerkt, blickt auf den Feldsaum, und wenn er nach Worten sucht, dann kommen sie, so sagt er, dort heraus. Das zusammengefügte Deutschland ist nicht seins, er bleibt den alten, sozialistischen Ideen treu. Er ist doch kein Verräter.
Am Schluss des Films landet er mit dem Boot an einem kleinen Strand. Ein Uckermärker mit Bierflasche hilft. Gratzik klärt ihn auf: „Du hast gerade einen deutschen Dichter an Land gezogen.“ - Der junge Mann: „Einen deutschen Dichter? Aber Sie sind ja noch nicht tot. Die meisten deutschen Dichter sind ja tot, die bekannt und wichtig sind.“ - „Siehste. Aber es gibt noch welche, die haben durchgehalten. Dazu gehöre ich.“
Sieben weitere Jahre hält er durch, mit der Welt, mit sich. Am 18. Juni ist Paul Gratzik gestorben. David Ensikat
Friedhof Grunewald an der Bornstedter Straße in Berlin-Halensee. Foto: Doris Spiekermann-Klaas