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Kai Sender
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Er ist kein Maschinenstürmer. Er ist Physiker. Ausstellungsmacher wird er notgedrungen

Nachruf auf Jost Lemmerich (Geb. 1929)
Das Jahr 1984, die Eröffnung der Ausstellung „Der Mensch und die Automation“ in einer Fabrikhalle in Wedding steht kurz bevor. Jost Lemmerich hat sie maßgeblich erdacht und finanziert. Aber irgendetwas fehlt, vielleicht eine Rolle Klebeband, irgendein Detail jedenfalls, und um Details kümmert er sich am liebsten selbst. Also geht er zu Karstadt - und ist irritiert von der Warenfülle. „Ich verstehe nicht, wofür die Leute das alles brauchen.“
Ein kritischer Rationalist, so nennen ihn seine Freunde. Was vor allem heißt, dass Jost Lemmerich für Dinge, die ihm unnütz erscheinen, wenig Verständnis aufbringt. Ein Auto zum Beispiel hat er nie besessen. Nicht, dass er sich weigern würde zu fahren. Wenn er irgendwo hin muss, wo Bus oder Bahn nicht hinkommen, dann mietet er sich eins. Aber wozu soll man so was besitzen?
Jost Lemmerich ist kein Maschinenstürmer. Er ist Physiker. Ausstellungsmacher wird er notgedrungen, weil es offenbar Leute gibt, die die Bedeutung der Naturwissenschaften nicht erkennen. 1977 wird in Berlin die Schau „Tendenzen der zwanziger Jahre“ gezeigt. Es geht um Kunst und auch ein bisschen um den Mythos vom „Swinging Berlin“. Das allein macht aber doch nicht die „Goldenen Zwanziger“ aus, denkt Lemmerich. Was ist mit Albert Einstein, Lise Meitner, Otto Hahn, all jenen, die hier einmal forschten und Berlin zur Welthauptstadt der Wissenschaften machten? Die kommen in den „Tendenzen“ überhaupt nicht vor.
Andere hätten sich aufgeregt und flammende Appelle verfasst. Lemmerich nicht, er macht seine eigene Ausstellung: „Die Physik der zwanziger Jahre“.
Er hat Ansichten, die von denen anderer abweichen mögen, aber er bleibt immer höflich, stets korrekt. Wer hätte ihn je in Alltagskluft und nicht im ordentlichen Anzug gesehen? Sein Vorbild ist der englische Gentleman. Überhaupt mag er alles Britische, er wandert durch Cornwall, durch Schottland, er zitiert gern Shakespeare.
Die britische Lebensart der Nachkriegszeit fasziniert ihn ganz besonders, die Gelassenheit beim Schlangestehen, das Demokratieverständnis. Als Knabe musste er ganz anderes kennenlernen. Mit 15 wurde er zum Volkssturm eingezogen in einen Krieg, in dem schon sein älterer Bruder gefallen war. Am Ende nahm der Krieg ihm auch noch den Vater, der wie er als Volkssturmmann die Berliner Trümmer verteidigen sollte.
Jost Lemmerich kommt verwundet nach Hause und spricht mit niemandem über die Dinge, die ihm widerfahren sind. Im beschädigten Reihenhaus in der Siemenssiedlung lebt er nun allein mit seiner Mutter. Das Abitur macht er noch, wenn auch nicht auf der Charlottenburger Waldschule. Die musste er verlassen, nachdem er sich mit der Rektorin angelegt hatte. Der junge Jost reagiert empfindlich, wenn er meint, diejenigen, die die braune Soße angerührt haben, würden immer noch den Ton angeben.
Ein Studium kommt nicht infrage. Sein Vater war bei Siemens, also fängt auch er bei Siemens an, im Chemielabor. Nach der Lehre nimmt er drei Monate frei, ein ungewohnter Luxus. Er verbringt die Zeit in London.
Siemens ermöglicht ihm dann doch das Studium. Und Lemmerich belegt nicht nur Physik an der TU, er interessiert sich auch für Philosophie und Kunst. Einer seiner Lieblingsmaler ist Adolph von Menzel - womöglich wegen dessen kleiner Statur, wie Lemmerich einmal sagt. Er selbst ist nicht viel größer als 1,60 Meter.
Bei Siemens wird er Forschungsleiter in der Kabelfertigung. Aber die große Karriere bleibt ihm verwehrt. Dafür müsste er Berlin und die Mutter verlassen. Schlimm genug, dass ihn Siemens immer wieder um die halbe Welt schickt.
Vielleicht wechselt er deshalb Mitte der 60er Jahre ins Patentamt. Der Verdienst ist gut, die Arbeitszeit geregelt. Auf den Weihnachtsfesten erscheint er stets als Engel. Der Auftritt im wallenden Gewand ist eine der wenigen Extravaganzen, die sich der korrekte Herr Lemmerich leistet.
Auf weitere Reisen geht er erst wieder nach dem Tod der Mutter. Und eigentlich nur im Dienste seiner Ausstellungen. Nach Princeton fährt er, um die Haushälterin von Albert Einstein zu treffen, und so lernt er auch dessen Nachlassverwalter kennen. Mit seiner Hilfe kann er Einsteins Nobelpreisurkunde in Berlin zeigen.
23 Ausstellungen macht er, dazu die Kataloge und noch ein paar Bücher. Eins über Lise Meitner zum Beispiel, die er besonders schätzt und einmal sogar kennenlernt. Nach ihrem Tod fährt Lemmerich als Fellow nach Cambridge und sichtet ihre Papiere. In einer Ausstellung der Staatsbibliothek zeigt er schließlich Briefe wie jenen an Otto Hahn, den Kernchemiker, in dessen Schatten Lise Meitner immer stand: „Hähnchen, das ist Physik, davon verstehst du nichts.“
Seine Arbeit wird gewürdigt und bringt ihm viele Auszeichnungen ein. Das Bundesverdienstkreuz etwa und die Ehrendoktorwürde der TU. In seiner Disziplin ist er der Siebte, dem diese Ehre zuteil wird. Darauf ist er ungeheuer stolz.
Nach dem Tod der Mutter lebt er allein. Es soll eine Frau in England gegeben haben, mit der er Ausstellungen und Theater besucht hat, damals, kurz nach seiner Ausbildung. Von anderen engeren Beziehungen weiß niemand zu berichten. Seinen Freunden schreibt er Briefe, vergisst keinen Geburtstag, auch nicht die von ihren Kindern. Er ist ein begnadeter Schenker; gern verschenkt er Zeit. Wenn irgendwo eine Steckdose montiert werden muss, ist er zur Stelle, mit Kabeln kennt er sich aus.
Bis zum Schluss wohnt er in dem kleinen Siemens-Reihenhaus, pflegt den schmalen Garten, die Kartoffel- und Bohnen-Beete mit viel Disziplin und Ausdauer auch noch nach Herzinfarkt und Hirnschlag. Im Februar muss er ins Krankenhaus. „Das schaffst du wieder“, sagen seine Freunde. „Da ist nichts mehr zu reparieren“, antwortet er. Man müsse das einsehen. Er ist eben ein kritischer Rationalist. Andreas Austilat
St. Hedwig-Friedhof an der Liesenstraße in Berlin-Mitte. Foto: Doris Spiekermann-Klaas