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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Er spendiert ihr den ersten Milkshake in Adelaide, Australien

Nachruf auf Herbert Bochnig (Geb. 1929)
Mit 14 lernt Herbert Bochnig den Krieg kennen. Es ist der 14. Januar 1944, als Soldaten ihn um halb zehn vom Schulhof in Spandau holen und ihn nach Falkensee bringen. Keine Schulbank, keine Geometrie, keine Diktate mehr, sein neuer Einsatzort ist nun die Flak. Erst die Großbatterie 4 / 437 in Falkensee, dann, ab Mai, als die Russen schon in den Karpaten stehen, die Schwere Heimatflakbatterie 208 / III in Gatow. Eine Kanone, gewaltig wie ein Müllwagen, die Metallkeile schießt, dick wie der Oberschenkel eines Mannes. Feierlich werden die Flakhelfer noch in Hitlers Olympiastadion eingeschworen. Und danach noch mal nach Hause geschickt, um sich zu verabschieden von ihren Lieben. Die Mutter reißt Herbert die nagelneue Kinderuniform vom Leib, verbrennt sie im Ofen und versteckt den Jungen in einer Kartoffelkiste. Viele seiner Schulkameraden sterben im Bombenhagel. Als Herbert aus der Kiste herauskriecht, ist Berlin kaputt und frei, der Endkampf vorüber, und Herbert bleiben noch 68 Jahre auf Erden.
Er wird Maurer in einer Stadt aus Trümmern, besucht die Berliner Ingenieurschule für Bauwesen und findet, Ironie des Lebens, keinen Job. Er beschließt abzuhauen. Winkt dem Vater, ein preußischer Polizist alter Schule, der ihn Zucht und Ordnung lehrte, umarmt die Mutter, fährt nach Bremen und reist von dort aus nach Australien. Adelaide, am Indischen Ozean, Strand, Hitze, dahinter Steppen voller Eisenerz. Herbert fühlt sich hier zu Hause. Schippt Koks auf Triebwagen der Eisenbahn, verdient das Geld, das ihn die Überfahrt gekostet hat, und noch etwas mehr. Australien, denkt Herbert, das ist was, da will er bleiben. Mit einem Freund gründet er eine Baufirma, die sich bald etabliert. Herbert verdient jetzt gut, aber er findet niemanden, mit dem er sein Geld teilen kann. Er reist zurück nach Berlin, um eine Frau zu suchen, die mit ihm nach Australien geht.
Im Sommer 1955 ist Herbert der König von Haselhorst. Braungebrannt, rabenschwarzes Haar, gerader Rücken, die Taschen voller Geld. Die Frauen stehen Schlange vor seinem Elternhaus. Er entscheidet sich für Helga, gerade 18, technische Zeichnerin, jung und schön. Sie gehen baden, spazieren und vertanzen den Sommer. Nach zwei Monaten streift er ihr den Ring in den „Rheinischen Winzerstuben“ am Zoo einfach über, forsch und selbstbewusst. Und nimmt sie mit: Im April 1956 lassen sie sich gemeinsam im Bremerhavener Auswandererhaus für die Ausreise untersuchen, die Tickets nach Australien kosten 68 Mark. Hinterm Suezkanal wird Helga seekrank, er gibt ihr zu essen und pflegt sie, es ist ihre Hochzeitsreise. Drei Wochen dauert die Schifffahrt, Helga und Herbert, der Sonne entgegen.
„Ein Zug junger Nazis in Adelaide eingetroffen“, steht in der Lokalzeitung, als sie ankommen. Herbert und Helga beeindruckt das nicht, er spendiert ihr ihren ersten Milkshake in Adelaide, da lassen sie sich nieder. Es sind glückliche Jahre: Er baut Siedlungen und Schulen, die Firma wächst, Sylvia, Peter und Gisela werden geboren, vor ihrer Tür steht ein Buick, Baujahr 1929, ein Schiff von einem Auto. Familienjahre, deutsches Wirtschaftswunder in Australien. Dann will Helga nicht mehr.
„Ich verbringe meine Tage am liebsten rücklings liegend auf dem Küchenboden“, schreibt sie 1960 an ihre Familie in Berlin. Die Hitze, er arbeitet wie ein Wilder, sie ist Hausfrau und wieder schwanger. Er will nicht zurück, doch sie überredet ihn. Sie verkaufen alles, Weihnachten 1962 kommen Bochnigs in Tempelhof an. Drei Kinder, eins auf dem Weg, keine Jobs, Berliner Winter.
Herbert beginnt einen Bürojob bei den Amerikanern, arbeitet gut und viel und gelangt über Kontakte schließlich in den Bausenat. 1963 wird Manuela geboren. Helga kämpft, eine Frau mit vier Kindern in Berlin, das ist außergewöhnlich. Wenn sie aus dem Bus steigen, zählen die anderen Passagiere mit: „Eins, zwei, drei, vier. Jungejunge!“, spotten sie. Bochnigs ziehen erst zu seinen Eltern, dann zu ihren, wohnen zu sechst auf 42 Quadratmetern. Dann findet Herbert ein Grundstück in Zehlendorf. 1970 fängt er an zu bauen.
Und er baut wieder wie ein Wilder. Denn wenn Herbert sich was in den Kopf gesetzt hat, zieht er das durch. Arbeitet nach Feierabend, mauert an Wochenenden, meldet sich im Senat krank und zieht Wände hoch. Am Tag des Einzugs will er noch eben den Kleiderschrank im Schlafzimmer zusammenzimmern, da kippt er um. Notarzt, Lungenentzündung, hohes Fieber, vier Wochen Krankenhaus. Jetzt hat das verdammte Haus meinen Mann kaputtgemacht, denkt sich Helga. Aber Herbert wird wieder.
Vier Wochen Kur in Bad Rappenau, dann steht er im Frühjahr 71 wieder beim Senat auf der Matte. Die zweite Phase des Glücks der Bochnigs beginnt, die siebziger Jahre. Die Kinder wachsen behütet auf, im Garten stehen ein Kirsch- und ein Pflaumenbaum, aus den Früchten kocht Herbert Mus. Sie fahren zu sechst im VW Käfer mit Dachgepäck nach Amrum, aber noch lieber an die Ostsee, da geht das Meer nicht weg. Herbert zimmert eine Bar in den Keller, sie feiern Feste im Garten. Deutsches Wirtschaftswunder, jetzt in Deutschland. Aber Herbert reicht das nicht. Er beginnt eine Affäre mit einer Kollegin. „Er ist ausgebrochen“, sagt Helga später.
Jetzt stellt sie ihn vor die Wahl: die oder die Familie. Sie gehen zur Eheberatung, aber er kann's nicht lassen. Dann geht sie zur Anwältin, will die Scheidung und die Kinder und die Hälfte vom Haus. Für Herbert eine Katastrophe, er gibt nach, aus Angst, was wird aus dem Haus, was sollen die Nachbarn denken? Helga zieht zu ihm zurück. Er wird sie niemals um Verzeihung bitten.
Die Kinder werden erwachsen, studieren, eine Gynäkologin, eine HNO-Ärztin, zwei Physiotherapeuten. Donnerwetter, denken die stolzen Eltern. Und die Nachbarn. Sieben Enkelkinder werden geboren, Herbert ist wahnsinnig stolz darauf, kocht ihnen Marmelade, baut ihnen Schaukeln, ein wunderbarer Großvater. Den Vorgarten zieren Eisblumen, Herberts Eisblumen, da darf Helga nicht ran. Sie arbeitet als technische Zeichnerin bei der AEG. 1994 sagt Herbert, er will jetzt in Rente. Mit 63 hört er auf. Sie machen Kreuzfahrten, Mittelmeer, Skandinavien, Flüsse. Herbert hegt seine Eisblumen. Und fängt an zu trinken.
Gin am liebsten, gerne, wenn die Sonne noch hoch über Zehlendorf steht. Er geht einkaufen, versteckt den Schnaps vor Helga, sie sagt zu ihm: „Ich seh's doch, Herbert.“ Aber es soll keiner wissen. Die Kinder ziehen aus, das Haus wird zu groß, Helga will es verkaufen. Herbert hängt am Haus wie an der Flasche. Er will es nicht verkaufen, aber es nützt nichts, 2009 ziehen sie aus, Dachgeschosswohnung in Zehlendorf, dann geht es bergab. Herbert redet viel von Australien, er wird melancholisch, vermisst seine Eisblumen, trinkt, bis er fällt und Helga, selbst über 70, ihn nicht mehr aufheben kann. Mit Blutsturz, Nierenversagen und drei gebrochenen Rippen kommt er 2012 ins Krankenhaus.
Herbert zieht in ein Zehlendorfer Heim, seine Familie besucht ihn oft. Mit der Leitung hat Helga abgemacht, dass sie ihn weiter trinken lassen, wenn er will. Und er will. Packt betrunken seine Koffer, will nach Australien, nachts, alleine, haut ab aus dem Scheißheim, zwei Bushaltestellen später finden sie ihn am Straßenrand. Er baut ab, wird dünn, eines Tages nimmt er sein Gebiss raus und sagt: „Ich kann nicht mehr.“
Schließlich erinnert Herbert sich nicht mal mehr an den Alkohol. Helga gibt ihm roten Saft, er hält ihn für „leckeren Rotwein“. Er ist dement und trocken, ohne es zu wissen. Am Ostermontag 2018 schläft er friedlich im Zehlendorfer Heim ein, seine Frau ist bei ihm. Die Familie gab australischen Strandsand mit in die Urne. Max Polonyi