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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Ein Leben und so viele Untergänge

Nachruf auf Verena Ortrud Sonnenberg (Geb. 1954)
In dem Monat, in dem sie geboren wurde, Dezember 1954, erreichte ein Schlager Platz eins der Hitparade, der trug den Titel: „Am 30. Mai ist der Weltuntergang“. Ihre Weltuntergänge sollten das schöne Kind nicht nur im Mai ereilen.
In Halle an der Saale, gleich beim Ochsenberg, lebten im Lagerhaus der ehemaligen Papiermühle der Kunstmaler Albert Ebert, seine Frau, der Sohn Tobias und „Schwälbchen“. Die Eltern nannten Verena so, weil sie so gern die fliegenden Figuren aus dem frühen Ballettunterricht vorführte. Als sie nicht mehr tanzte, wurde aus „Schwälbchen“ „Püppi“.
Die Sprache, die Püppi kultivierte, war nicht so süß. Lehrer erklärten das damit, dass sie eben im „Lumpenhaus“ aufgewachsen sei. Und empfahlen ihr, nach der Achten die Schule zu verlassen.
Am liebsten wäre sie zum Theater gegangen, Kostüme entwerfen. Daraus aber wurde nichts. Eine Schulfreundin lud sie ein, gemeinsam eine Konditorlehre zu beginnen. Drei Jahre musste Püppi ihr fast schwarzes, langes Haar unter einer Bäckermütze verstecken. Sie opponierte mit rotem Lippenstift und schwarzem Kajal. Hungrigen Freunden brachte sie in Zeitungspapier gewickelten Käsekuchen vor das Tor der Großbäckerei. Wenn Anfang November die Herstellung der Stollen begann, schmuggelte Püppi die gute Butter aus Frankreich vom Betriebsgelände. Den Rum, in den sie die Sultaninen einlegen sollte, schüttete sie vergnügt in ihren knallroten Mund.
Erstmals ging für Verena die Welt unter, als der Vater voller Stolz ihrem Freund eröffnete, dass sie Konditor werde. Bis dahin glaubte der Verehrer, seine Geliebte sei etwas Wichtiges am Landestheater.
Nach der Lehre verließ Verena das Backhaus. Ihre Eltern halfen ihr, eine Steuernummer zu bekommen, die in der DDR selten, aber unabdingbar war für eine Existenz ohne feste Anstellung. Sie durfte nun Armreifen, Ohrringe und Ketten biegen, löten und fädeln, um sie an den staatlichen Kunsthandel zu verkaufen. In jenen Jahren wurde Verena die begehrte Frau, deren loses Mundwerk die Leute mehr erfreute als erschreckte.
Sie heiratete Max, Max floh in den Westen und wollte sie sie per Familienzusammenführung nachholen. Püppi überbrückte die Zeit mit Alkohol und einer Liebschaft und vernachlässigte ihr Gewerbe. Max' Plan ging auf, Verena zog zu ihm in die freie Welt und sollte nun noch einmal von vorn beginnen, vorerst als Bademeisterin im Strandbad Wannsee.
Von einer Amerikareise kam Max nicht zurück. Püppis neue Welt ging unter, und ihre Arbeit ertrug sie auch nicht mehr.
Reisen nach Halle waren Glücksmomente, in denen sie mit Zurückgebliebenen lachte und trank. Ihre Mutter bat sie, doch ganz zurückzukommen. Vergeblich.
Püppis Berliner Wohnung glich einer Museumsstube. Die Blumensträuße erinnerten in ihrer Farbenvielfalt an die Bilder ihres berühmten Vaters. Solche ließ sie sich schicken, um sie teuer zu verkaufen. So konnte sie sich auch ihre Thailandreisen leisten, auf denen sie heilende Gifte von Reptilien und Zauberpilzen kennenlernte. Leider heilten diese nicht nur. Püppi begann, Stimmen zu vernehmen, die ihr Dinge befahlen, sie benahm sich seltsam, sprach anstatt Deutsch lieber in einem reduzierten und recht Hallisch klingenden Englisch. Für einige Wochen landete sie in der Psychiatrie des Urbankrankenhauses. Nur ihre 13-jährige Nichte Sarah besuchte sie dort. Sie erledigte auch den Zahlungsverkehr und goss Püppis Blumen. Die Diagnose, chronisch-paranoide Schizophrenie, erschien Püppi wie ein weiterer Weltuntergang.
Ihre Wohnung in der Bülowstraße verließ sie selten, aber wenn, dann auffällig: kurzer roter Lederrock, schwarze Netzstrümpfe, hochhackige Schuhe und ein Pelzkragen über ihrer großen Oberweite. Die Gegend, in der sie wohnte, ist für bezahlte Liebesdienste bekannt; Verena hätte ein Vermögen verdient, wenn die Stimmen es ihr empfohlen hätten. Ganz im Gegenteil aber befahlen sie ihr, sich von allem Materiellen zu trennen.
Sie verkaufte ihre Möbel und die restlichen Bilder des Vaters und reiste nach Indien, um dort Spiritualität und Heilung zu finden. Zurück in Berlin, bekam sie eine kleine Wohnung in Wedding, die ihr das Sozialamt bezahlte. Mutter Else kam einmal im Monat in die Stadt, besuchte erst Püppis Bruder und bat danach bei ihr um Einlass. Vergeblich, die Tochter befahl, das mitgebrachte Geld durch den Briefschlitz zu werfen. Einen überfahrenen Fuchs hingegen holte sie zu sich hinein, legte ihn in die Duschwanne, auf dass von dort seine Astralreise friedvoller geschehen könne.
2007 gab es wochenlang kein Lebenszeichen. Die Mutter und Sarah erfuhren von der Polizei, dass Püppi in der Psychiatrie untergebracht sei. Nach ihrer Entlassung besuchten sie sie zum letzten Mal. Es war ein kurzes Treffen, sie wollte sofort wieder alleine sein.
Den Tod ihrer Mutter 2015 nahm sie nicht wahr. Sie schrieb ihr weiter Briefe, in denen sie dringend um Geld bat. Im Getränkeladen gegenüber kaufte sie täglich ihre fünf Flaschen Bier. Der Kaufmann hatte ein wenig Angst vor ihr. Wenn Kunden anstanden, brüllte Püppi sie schon mal an: „Disappear, Mistschweine!“
Im November werden ihr ihre Stimmen empfohlen haben, die rot gefärbten Haare zu kämmen und das notdürftige Bett nicht mehr zu verlassen. Dort fand man sie am 12. Dezember.
Ein kleiner Globus stand auf ihrem Küchentisch. Er könnte Püppi an Fernes, Schönes erinnert haben. Womöglich aber auch an all ihre Weltuntergänge. Jacob Manthey