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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Würde er über seine Schmerzen sprechen, hätten sie gewonnen

Nachruf auf Christian Bergemann (Geb. 1963)
Tun wir, was er vermieden hat. Sprechen wir über die alten Zeiten.
Im Herbst 1979 fanden etliche Dutzend Ost-Berliner, vielleicht waren es auch ein paar hundert, einen kleinen Zettel in ihrem Briefkasten, auf dem stand, gedruckt mit einem Kinderstempelset: „MENSCHENRECHT No.1 - FREIE MEINUNGSÄUSSERUNG! AGIS“ Agis war, das wird den wenigsten bewusst gewesen sein, ein spartanischer König, der mit Reformen die Gesellschaft ändern wollte, scheiterte und mit dem Leben zahlte; wichtiger noch: Mit dem Namen dieses Königs hatte im Jahr 1942 die Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ ein Flugblatt gegen die Naziherrschaft unterzeichnet.
Nun also dieses Zettelchen, hergestellt und verteilt von vier Jugendlichen, die nicht weniger wollten als den SED-Staat stürzen, die wussten, dass sie sich in Gefahr begaben und für den Fall der Fälle Fluchtpläne schmiedeten, die glaubten, dass sie, so sie gefasst würden, im Knast zusammengeschlagen und gefoltert würden, und die sich gar nicht vorstellen konnten, dass es dessen keineswegs bedarf, um einen Starken schwach zu machen. Davon erzählt der Einzige von ihnen, der noch lebt, und er erzählt von Christian, der der Jüngste war, 15 Jahre damals, und der schon so viel mehr gelesen hatte als die anderen, Bakunin, Trotzki. Keine Ahnung, wie er auf „Agis“ gekommen war, aber der Spartanername und das Vorbild der todesmutigen Nazigegner, das war ihm wichtig. Er war in einer Christenfamilie aufgewachsen, war niemals bei den Pionieren, hatte Konfirmation statt Jugendweihe gehabt und wusste daher schon so früh, dass an dem Sozialismus, den die Lehrer und die Funktionäre verkörperten, nichts gerecht und gut war.
Als die Freunde wegen der Flugblätter und der Fluchtpläne vorm Richter standen, war Christian der Einzige, der sich „nicht schuldig“ bekannte - und der statt der acht Monate, die die anderen bekamen, zu drei Jahren und vier Monaten verurteilt wurde, Haftgrund: „öffentliche Herabwürdigung und ungesetzlicher Grenzübertritt“. Gut möglich, dass die Anwälte der anderen ihre Mandanten zum Schuldeingeständnis gedrängt hatten. Gut möglich, dass es einen Deal gab, Bekenntnis gegen Milde. Christians Anwalt setzte sich für die Wahrheit ein: Christian hatte niemanden herabgewürdigt und auch keineswegs die Grenze übertreten. Aber war das klug? Christian büßte für die Wahrheit; saß dreimal so lang im Knast. Andererseits sagte er später, dass der einzige Lichtblick in dieser dunklen Zeit eben das Auftreten seines Anwalts gewesen sei: Der hatte nicht taktiert, der hatte gesagt, was war. Der half dem Knaben das Gute vom Bösen zu unterscheiden.
Im November 1979 war er aus dem Unterricht zum Schuldirektor gerufen worden. Dort wartete die Stasi auf ihn und nahm ihn fest. Die Eltern erfuhren erst nach Tagen und mühsamen Nachforschungen davon. Es hieß: In Argentinien verschwinden Menschen einfach so, in unserer Republik gibt es so was nicht. Der Prozess fand im Juni 1980 statt; in den sieben Monaten Untersuchungshaft lernte Christian die Gefängnisse in Hohenschönhausen und in Pankow kennen mit Einzelhaft, Dunkelzelle, dem ganzen Programm zur Einschüchterung und Brechung. Genaueres erzählte er nie.
Nach dem Urteil kam er in den Jugendknast in Ichtershausen, Thüringen, hoffte darauf, in den Westen freigekauft zu werden, saß mit Schwerverbrechern in einer Zelle, durfte einmal im Monat Besuch von Eltern und Geschwistern empfangen, eine Viertelstunde, Berührungen verboten, absolvierte eine Maschinenbauerlehre, für die ihm der Abschluss verweigert wurde, wartete und hoffte. Ein Pfarrer, der die Familie kannte, bat beim Innerdeutschen Ministerium der Bundesrepublik um Hilfe. Er erfuhr auf Umwegen, dass sich die Freikäufer im Westen nicht für eine Ausreise dieses „Kriminellen“ einsetzen würden, auch nicht, nachdem er seine ganze Strafe abgesessen habe. Der Pfarrer wandte sich an den Ständigen Vertreter der Bundesrepublik, der versprach zu helfen.
So kam es, dass Christian am 15. März 1983 nicht nur aus der Haft entlassen wurde, sondern mit sofortiger Wirkung aus der Staatsbürgerschaft des Landes, das ihm so viel Gelegenheit gegeben hatte, es zu hassen.
Er war 16 Jahre und drei Monate alt, als er verhaftet worden war. Er war 19 Jahre und sieben Monate alt, als er aus dem Gefängnis nach Berlin gebracht wurde, in die Räume des Rechtsanwalts Vogel, der mit dem Westen die Freikäufe aushandelte und dabei gut verdiente. Am selben Tag noch chauffierte die Frau des Anwalts Christian im goldenen Mercedes in den Westen.
Und jetzt? Was tut einer, dem die Jugend und die Heimat gestohlen wurden, der Jahre in einem Loch verbracht hat, in dem sein Wille und sein Denken gebrochen werden sollten? Was tut so einer in der Freiheit?
Er sprach nicht drüber. Er behauptete seinen Willen und sein Denken, indem er vorgab, dass da nichts gebrochen worden sei. Sie wollten ihm Schmerzen zufügen. Würde er über seine Schmerzen sprechen, hätten sie gewonnen. Das war seine Logik. Die oder ich. Sieger oder Besiegter sein. Ohnehin galt für ihn: Man soll die Dinge nicht zerquatschen. Man soll tun, was zu tun ist.
Dazu passte das Studium, das er nach dem Abitur begann: Verfahrenstechnik. Und noch mehr passte dazu, was er neben Abitur und Studium betrieb. Er schloss sich einem eingetragenen Verein an namens „Gesellschaft Solidarnodk WestBerlin“. Es war die Zeit, in der in Polen das Kriegsrecht galt. Wenn es irgendwo im Osten eine Opposition gab, die dem System gefährlich wurde, dann die „Solidarnodk“ - und die unterstützte der Verein. Vor allem war es die sogenannte Kämpfende Solidarität, eine besonders aktive und risikobereite Gruppe in Polen, der die West-Berliner Geld und Geräte beschafften. Dabei spielte Christian, der einzige Deutsche im Verein, eine Rolle, die mit seiner Funktionsbezeichnung „Schatzmeister“ nicht ganz ausreichend beschrieben ist. Er reiste, so erzählte er das später mal in einem Interview, mit Geldkoffern durch halb Europa. Er bereitete den Transport von Druckmaschinen und Funkapparaturen vor. Er entwickelte ein Gerät, mit dem Lebensmittelbüchsen wieder zu verschließen waren, damit man darin Schmuggelware verstecken konnte. Sie steht heute im Museum am Checkpoint Charlie.
Und damit sind wir beim größten seiner Talente, dem Forschergeist. Denn eigentlich war dieser Christian Bergemann vor allem eins: Erfinder, manche sagen: Alchemist. Zuerst dachte er sich einen Rußfilter aus; da studierte er noch nicht einmal. Das Patent verkaufte er an MAN und konnte sich mit dem Geld etliche Jahre über Wasser halten. Er brauchte ja nicht viel. Seine Studentenwohnung mit der Klappcouch war winzig, den „Spiegel“ las er in der Bibliothek.
Auf die Idee mit den magnetischen Nanopartikeln kam er während des Studiums, er verbrachte Tage, Nächte im Labor, Wochen, Monate, Jahre, bis zuletzt. Es ging um eine Technologie, die helfen sollte, Medikamente zielgenauer im Körper einzusetzen. Der Mann, der niemals einen Studienabschluss machte, betrieb Forschung auf höchstem Niveau. Nach 15 Jahren war er dazu imstande, seine Ergebnisse in Produkte zu verwandeln, mit denen er Pharmafirmen belieferte.
Da war er längst schon Vater. Wie es dazu gekommen war, ist nun auch eine typische Geschichte. Karin wusste ja, dass sie mit einem Mann zusammen war, der seinen Gefühlshaushalt beisammenhielt, indem er ihn verbarg. Das war nicht leicht für sie. Sie wusste aber auch, dass sie sich auf ihn verlassen konnte, jederzeit. Ist Treue nicht wichtiger als jeder Treueschwur? Sollte er um ihre Hand anhalten? Wozu denn, wenn man etwas viel Größeres vorhat! Er wünschte sich ein Kind von ihr. 1994 kam Luisa auf die Welt.
Karin zeigt die Fotos mit den beiden, der Vater und die Tochter, sie erzählt, wie froh er war und wie viel ihm das Zusammensein bedeutete, auch wenn er so viel Zeit allein in seinem Labor verbrachte, auch wenn er etwas tief in sich verbarg, das da war, wirkte und ihn auf eine Weise fernhielt von der Welt.
Christian musste im Frühjahr ins Krankenhaus, eine Notoperation wegen einer Gefäßkrankheit. Da lag er, gefangen im Bett, die Schläuche hielten ihn, und sagte leise etwas Selbstverständliches, aber für ihn ganz und gar Erstaunliches: „Und ich dachte, ich hätte in meinem Leben schon genug leiden müssen.“
Er erholte sich recht gut und ging, als er halbwegs auf den Beinen war, sofort wieder ins Labor. Am 31. August kam er spät am Abend heim. Er brach zusammen, ein Riss der Herzschlagader, rief nach Karin und starb in ihren Armen. David Ensikat