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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Er hatte sein eigenes kleines Königreich gefunden

Nachruf auf Robert Elsie (Geb. 1950)
Es war einmal ein Land, von dem es hieß, alle Menschen dort seien gleich. Aber das war ein Märchen. Über das Land herrschte ein ängstlicher und missgünstiger König, der die Ausgänge seines Reiches fest verschlossen hielt. Niemand sollte fliehen können. Niemand sollte die Wahrheit in die Welt tragen dürfen. Doch dann kam dieser unerschrockene Prinz von einem Land jenseits des großen Meeres. Der Prinz hieß Robert und war ein sympathischer junger Mann mit lächelnden Augen, der anders als andere Prinzen keineswegs darauf aus war, eine Prinzessin zu erobern, sondern der einfach nur alles über die Welt wissen wollte, was er in Erfahrung bringen konnte.
Wie erkennt man einen Prinzen? Einfacher gefragt: Was ist der Unterschied zwischen einem klugen Kind und einem hochbegabten Kind? Ein kluges Kind wird auf die Frage „Was macht zwei plus zwei?“ prompt antworten: „Vier“. Wenn der Erwachsene dann lobt und eine große mathematische Zukunft prophezeit, wird es lächeln. Wenn es sehr klug ist, wird es ein wenig ungläubig lächeln, denn dem Lob der Erwachsenen ist nicht zu trauen. Ein hochbegabtes Kind wird auf die Frage natürlich auch antworten: „Vier“. Aber es wird im Stillen hinzufügen „Was sonst?“ und sich fortan interessanteren Fragestellern zuwenden. Für die wenigen Hochbegabten unter uns ist das Wahre das unmittelbar Gewisse. Sein Wissen zu mehren war für den kleinen Robert daher das Selbstverständlichste auf der Welt. Leben war für ihn nichts anderes als Lernen, und Lernen war ein Spiel der Aneignung. Wenn er eine fremde Sprache hörte, wollte er jedes Wort verstehen, also hörte er sehr aufmerksam zu und lernte sie, wie Kinder ihre Muttersprache lernen, mit den Ohren und mit dem Herzen. Seine Sprachbegabung war ihm so selbstverständlich, dass es ihm nie in den Sinn gekommen wäre, damit zu prahlen.
Er wuchs in Vancouver auf, nah dem Meer, liebte das Wasser und schwamm wie ein Fisch. Seine Stiefbrüder waren schon sehr alt, und so galt die ganze Liebe seiner Eltern ihm. Das Leben hätte schöner nicht sein können. Er fand Freunde, die ihm lebenslang blieben, und er musste sich nicht auf die gefahrvolle Suche nach einer Prinzessin begeben, denn er liebte nur Prinzen. Was ihm nie zum Problem wurde, weder in Vancouver, noch in Europa. Die Musik Schuberts hatte ihn in ihren Bann gezogen, und so reiste er nach Deutschland, erkundete Berlin, den Westteil wie den Ostteil, traf sich mit polnischen Studenten, die er schon lange von Brieffreundschaften her kannte. Er studierte Sprachen in Paris, in Dublin, in Bonn. Seine Neugier ging nach allen Richtungen, aber eigentlich hatte er sein Leben der gälischen Sprache Irlands, Schottlands und der Isle of Man widmen wollen. Aber dann erhielt er mit einigen wenigen Studenten die Chance, ein Land zu bereisen, das man nur vom Hörensagen kannte. Das Land der Skipetaren, der Adlersöhne.
Vier Jahrhunderte hatte es zum Osmanischen Reich gehört, und ein Sultanat war es geblieben, denn es herrschte ein Diktator, der das Land in ein großes Erziehungslager verwandelt hatte: Enver Hoxha. Er paktierte erst mit der Sowjetunion, dann mit China, um den „neuen sozialistischen Menschen“ zu erschaffen. Ein halbes Jahrhundert, von 1944 bis 1990, herrschte er über die Menschen und stellte alles unter Strafe, was seine Macht hätte gefährden können. Im Jahr 1967 erließ er ein totales Religionsverbot. Albanien wurde zum „ersten atheistischen Staat der Welt“ erklärt. Kirchen und Moscheen wurden zerstört oder in Kinos und Kaufhäuser verwandelt, heilige Bücher vernichtet, Altäre und Ikonen zertrümmert. Aus Angst vor einer Invasion wurden im ganzen Land an die 200 000 Bunker errichtet. Immer wieder gab es „Säuberungen“, Intellektuelle und Künstler wurden aufs Land verschickt, um sich durch Arbeit zu bewähren. Als Enver Hoxha starb, fielen die Raubritter ins Land, und sammelten in einem groß angelegten Schneeballsystem das wenige Geld der Menschen ein, indem sie märchenhafte Renditen versprachen, bis ihr Betrug aufflog und die Finanzkrise sich 1997 zum Bürgerkrieg ausweitete. Nur mühsam wurde der Friede wiederhergestellt.
Warum hat er sein Forscherleben ausgerechnet Albanien gewidmet, wurde Robert Elsie immer wieder gefragt. Weil, gab er zur Antwort, Albanien wärmer ist als all die keltischen Länder, und zweitens, weil sich so wenige Forscher dafür interessierten, und es somit keine Konkurrenz gab. Er hatte sein eigenes kleines Königreich gefunden. Und er tat alles, um der Welt näherzubringen, was für ein schönes und rätselhaftes Land Albanien ist. Für ihn war es „ein lebendiges Museum der Vergangenheit“, denn in den Bergen des Nordens lebten die Menschen noch immer nach den Riten der alten Stammesgesellschaft. Grausame Riten zuweilen, über die grausame Märchen erzählt wurden. So war es in alten Zeiten Brauch, „dass wenn der Herr des Hauses alt wurde, der Sohn ihn zu nehmen hatte, um ihn fortzuführen und im Wasser zu ertränken“. Es dauerte viele Generationen, bis sich ein Sohn eines Tages seines Vaters erbarmte und den Fluch brach. Er wusste: „Auch er hat seinen Vater ertränkt, und wie auch ich ihn jetzt ertränke, ertränkt mich auch mein Sohn.“ Also beendete er das Töten, „und bald darauf hörte die ganze Stadt die Begebenheit dieses Alten und man schwor, die Alten nicht mehr zu ertränken.“
Im Norden galt das Gewohnheitsrecht, der „Kanun“, der alles zur Frage der Ehre erklärte, die Blutrache ebenso wie das Gastrecht. Für Freund und Gast gibt es im Albanischen nur ein Wort. Dieser Ehrenkodex schützte die Juden während der Zeit der nationalsozialistischen Besatzung, denn dank des unumstößlichen Gastrechts wurden sie vor ihren Verfolgern in Sicherheit gebracht. Albanien ist das einzige von Deutschen heimgesuchte Land Europas, in dem nach dem Holocaust mehr Juden lebten als zuvor.
Es gibt so viele Geschichten über dieses Land zu erzählen, so viele Lieder zu singen, so viele Gedichte zu übersetzen. Und es galt im Laufe der neuen Balkankriege, den vielen Opfern eine Stimme zu geben. Robert Elsie diente als Dolmetscher beim Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Er hörte und übersetzte, was die vielen Zeugen über die Gräuel des Krieges erzählten, und es kostete ihn viele schlaflose Nächte. Er war auf der Seite Albaniens, aber er war kein Parteigänger, er versuchte alle Stimmen in diesem Konflikt zu hören, und er versuchte zu verstehen, warum es immer wieder zum Streit auf dem Balkan kommt. Für ihn war Geschichtsschreibung auch ein Versuch der diplomatischen Friedensstiftung. Über 60 Bücher hat Robert Elsie geschrieben, viele andere hat er neu zugänglich gemacht. Das Internet war für ihn ein Glück, denn auf seiner Seite albanianhistory.net konnte er all sein Material vor den Interessierten ausbreiten: Fotografien, Tonaufzeichnungen, Interviews und viele, viele Texte.
Er setzte sich morgens an den Schreibtisch, saß da bis spätabends und wenn er nachts eine Idee hatte, stand er wieder auf und ging zurück an den Tisch. Er hatte keine Zeit für Überflüssiges. Besucher waren willkommen, wenn sie etwas zu sagen hatten. Geplapper schlug ihn in die Flucht. Wo er stand und ging, hatte er immer etwas zu lesen dabei.
Ansonsten war er ein einfacher Mensch. Er hat für den Bundespräsidenten in Sandalen gedolmetscht, trug Hosen, die er mochte, bis sie von selbst zerfielen. Und er blieb seiner großen Liebe treu bis zum Ende. Stephan hatte er auf dem Kölner Karneval getroffen, und sie blieben 38 Jahre lang zusammen. Albanien war ihnen zu rau für das alltägliche Leben, und so hatten sie zusammen eine Wohnung in Berlin gesucht und gefunden, nah am Wald und am Wasser. Und sie wären noch viele Jahre glücklich gewesen, wenn Robert nicht an dieser seltenen Störung des Nervensystems erkrankt wäre, die die Ärzte vor ein Rätsel stellte. Die Muskeln versagten ihm zunehmend den Dienst. Innerhalb von wenigen Monaten verließen ihn die Kräfte gänzlich.
In der letzten Nacht bat er von sich aus, wieder in die Klinik zu dürfen, er hatte die Hoffnung aufgegeben. „Sterben ist eigentlich langweilig“, scherzte er, „man wartet und wartet.“ Es würde noch in derselben Nacht zu Ende gehen, dessen war er sich sicher. Der Tod selbst beunruhigte ihn nicht, denn sein Liebster war bei ihm, und sie sagten sich die Worte, die trösten.
Robert Elsie wurde in Albanien begraben, in Theth, einem kleinen Ort in den Bergen, und die Alten des Dorfes sangen ihm zuliebe, und sie tranken viel Raki zu Ehren des großen Freundes ihres Volkes. Gregor Eisenhauer