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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Das Klackern seiner Schreibmaschine: wie ein Einschlaflied

Nachruf auf Paul Kárpáti (Geb. 1933)
Der Vater arbeitete viel und gern. Die Arbeit war sein Lebensinhalt, so erzählen es die drei Kinder wenige Woche nach seinem Tod am Küchentisch in Ahrensfelde. Alles andere war Hintergrundrauschen für ihn, unvermeidbar, uninteressant. Jahrelang lehrte er an der Universität; promoviert hat er aber nie. Ein akademischer Titel war doch Schnickschnack. „Dafür habe ich keine Zeit.“
Worte, Sprache. Prosa, Lyrik. Dafür nahm er sich alle Zeit. Er nahm die Worte von Endre Ady, Milán Füst oder Gabór Hajnal und topfte sie um vom Ungarischen ins Deutsche. Wie eine empfindliche Pflanze, vorsichtig, um die Wurzeln nicht zu zerstören. Er wollte die ungarische Literatur, die durch die lange Diktatur und eine schwer fassbare Sprache isoliert war, nach Deutschland holen, sanft, mit viel Gefühl. Ganz anders, als er selbst umgetopft worden war.
Weil es die Sieger des Weltkriegs 1945 in einem Schloss bei Potsdam so entschieden hatten, wurden kurz darauf 250 000 Ungarndeutsche umgesiedelt. Den Kárpátys blieb wenig Zeit, das Nötigste zusammenzusammeln. Sie verließen das Haus und den Kramerladen und gelangten in einem Güterzug nach Sachsen, in die Nähe von Dresden. Sie lebten zu sechst in einem Zimmer einer Kaserne, die Eltern, die Großmutter und die drei Söhne, deren ältester Paul war. Die Großmutter hätte nicht mitkommen müssen, aber alleine wollte sie nicht zurückbleiben in dem kleinen ungarischen Dorf.
Paul wurde in der Schule gehänselt, weil er aus Ungarn kam, weil die Familie arm war.
„Aber er hat nie einen Groll gehegt“, sagt seine Tochter Annett. Nicht gegen Deutschland, wo er einen schweren Start hatte, nicht gegen Ungarn, das Land, das ihn nicht wollte. Ganz im Gegenteil, sein Leben lang war er damit beschäftigt die beiden Länder zu verbinden.
Das führte ihn auch nach Berlin, Anfang der fünfziger Jahre ans Finno-ugrische Institut an der Humboldt-Universität. Seine Frau Lilian lernte er beim Tanzen in der Friedrichstraße kennen. Am 31. Dezember 1956, sie kannten sich schon ein Weile, spazierten sie zufällig am Standesamt in Weißensee vorbei, da rief ein gelangweilter Mitarbeiter ihnen aus dem Fenster zu, ob sie nicht heiraten wollten. Sie gingen rein und taten es. So zumindest die Geschichte. Sie passt ganz gut: Keine Feier, kein Schnickschnack.
Mit 23 wurde er zum ersten Mal Vater, und es kamen noch zwei Kinder dazu. Die Ehe war traditionell, die Mutter erzog die Kinder, Vater verdiente das Geld. Ansonsten aber ging es weniger traditionell zu bei den Kárpátis. Sie sparten nicht auf ein Auto, und die Unterhaltungen handelten selten vom Wetter. Im Arbeitszimmer des Vaters stapelten sich die Bücher bis zur Decke. Dazwischen saß er bis spät in die Nacht, und draußen hörte man nur das Klackern seiner Schreibmaschine. „Es war wie ein Einschlaflied“, erinnert sich sein Sohn Andreas. Wenn die Familie zusammensaß, ging es um ungarische Dichter, Franz Fühmann kam zum Essen und man politisierte. Smalltalk? Schnickschnack.
Er haderte mit der DDR, fand nach dem Studium anfangs keinen Job, weil er dem System dieser ihm zugewiesenen Lebenswelt kritisch gegenüberstand. Lebenswelt, das Wort benutzte er oft. Heimat sagte er nie. Patriotismus war ihm ohnehin fremd. Man kann sich denken, was er von Ungarn unter Orbans Führung hielt.
Er war Kosmopolit, Europäer. Hob die Literatur über Grenzen. Politische Linien, das hatte er erfahren, waren reine Willkür. Sie hatten wenig Bedeutung für ihn. Aus dem Land seiner Geburt war er vertrieben worden, dem neuen Staat konnte er beim Zerfall zusehen. Zugehörigkeit war wandelbar, Veränderung war nichts Bedrohliches. Davon hatte er genug erlebt.
Seine Familie hieß ursprünglich einmal Kraus. Das klang in Ungarn viel zu deutsch, also machten sie Kárpáti daraus - nach dem Roman „Kárpáthy Zoltán“ des ungarischen Schriftstellers Mór Jókai. Der Großvater hatte den Namen ausgewählt. Identität war einfach eine Frage der Übersetzung. Melanie Berger