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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Klaus ist im Zweiten Weltkrieg verschwunden

Nachruf auf Ernest Keith Heymann (Geb. 1918)
Was ein Jude ist, versteht Klaus Heymann nicht, bis ihn jemand so nennt. 1924, kurz nach der Einschulung, kommt einer seiner Mitschüler an der Grundschule in Breslau auf ihn zu und schimpft ihn einen „ollen Juden“. „Selber“, antwortet Klaus - weil er es nicht besser weiß. Weil es noch nicht wichtig ist.
1918 kommt Klaus in Breslau zur Welt. Klaus Ernst, um genau zu sein. Seine Eltern geben ihm den zweiten Namen, weil er „in ernsten Zeiten“ geboren ist. Der Erste Weltkrieg ist gerade zu Ende, und dass alles noch viel ernster werden soll, ahnt Familie Heymann damals nicht.
Klaus Vater arbeitet als Architekt, ist preußischer Staatsbeamter. Die Familie zieht oft um, von Berlin nach Pommern, nach Breslau, nach Königsberg und zurück nach Berlin. Ihre Religion stört den Staat damals noch nicht.
Nach seinem Abitur im Jahr 1936 geht Klaus nach England. Er zieht weg, weil er in Deutschland nicht mehr studieren darf. Seine Eltern und die beiden Schwestern bleiben in Berlin.
Zwei Jahre später wendet sich Lieselotte Lachmann, eine Jugendfreundin an Klaus. Die beiden kennen sich, seit sie mit 13 gemeinsam auf einer Ferienfreizeit in Norderney waren. Viel Kontakt hatten sie bis dahin nicht. 1938 aber brennen in Deutschland jüdische Geschäfte und Lilo muss raus. Um jedoch nach England übersiedeln zu dürfen, braucht sie eine Anstellung. Und so gibt Klaus eine Anzeige auf: „Deutsches Mädchen mit brillanten österreichischen Kochkünsten sucht Stelle“. Das ist maßlos übertrieben, aber damals gibt es viele solcher Gesuche; man muss irgendwie auffallen. Lieselotte findet Arbeit und kommt nach London. Die beiden werden wieder Freunde, ihre gemeinsamen Erinnerungen machen sie zu Komplizen in der Fremde. Vier Jahre später heiraten sie.
1944 kehrt er aufs europäische Festland zurück: als Soldat in der britischen Armee. In seinem Ausweis steht da allerdings schon ein anderer Name, er heißt jetzt Ernest Keith Heyman. Über Frankreich und Holland kommt er nach Deutschland, am Tag der deutschen Kapitulation ist er im Ruhrgebiet stationiert. Seine Familie ist kurz vor dem Krieg doch nach Holland ausgewandert, er bekommt die Erlaubnis, sie zu besuchen. Am 7. Juli 1945 bringt ihn ein Fahrer nach Amsterdam. Als er dort ankommt, gibt ihm die Nachbarin der Familie einen Stapel Papiere. Es sind die Abschiedsbriefe seiner Eltern und seiner ältesten Schwester, geschrieben im April 1943, kurz vor der Deportation nach Theresienstadt und Auschwitz.
Während seines Studiums hatte Klaus Geschichten über Deportationen gelesen. Geglaubt hatte er sie nicht. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Menschen so etwas tun.
Er hat sich geirrt, und er beginnt nachzuforschen. In sieben Bänden hält er die Geschichte der Familien fest, seiner und der seiner Frau. Er sammelt Fotos, ordnet Erinnerungen, kartografiert Leben. „Schicksal der Familien während des 2. Weltkriegs“, schreibt er über einen Stammbaum, den er an den Anfang seiner Autobiografie stellt. 32 Verwandte sind da aufgeführt, er teilt sie in zwei Kategorien ein: diejenigen, die von den Nazis ermordet wurden und die anderen. Nur zehn haben den Weltkrieg überlebt.
Und obwohl er sich in den kommenden Jahren oft in der Vergangenheit aufhält, geht das Leben weiter. Wie sein Vater arbeitet er als Architekt. Lilo und er kaufen ein Haus im Nordwesten Londons: englisches Mittelschichtglück. Sie bekommen zwei Kinder und zwei Enkelkinder. Seine Freunde kennen ihn als Ernest, seine Frau nennt ihn nur „Darling“.
Klaus, so scheint es, ist im Zweiten Weltkrieg verschwunden.
Nur manchmal, wenn Ernest den Kindern im breiten Einwandererenglisch etwas erzählt, taucht der Junge wieder auf. Er nennt seine Anekdoten „Klaus-Geschichten“, sie handeln von Deutschland und von der Zeit, als er noch nicht wusste, was ein Jude ist, weil das damals noch nicht wichtig war.
Ernest Keith Heyman stirbt am 29. April 2017 im Alter von 99 Jahren in London. Seine Familie begräbt ihn im Friedhof von Golders Green. Klaus Ernst Heymann, den Jungen, der 1918 in Breslau geboren wurde, hat Golders Green immer ein wenig an Berlin Halensee erinnert. Johannes Laubmeier