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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Ihre Haare färbt sie blond. Sie sagt: „Ich habe mich aufgenordet“

Nachruf auf Lilli Nachama (Geb. 1922)
Am 27. Februar 1943, ihr Geburtstag liegt da schon über 20 Jahre zurück, entscheidet sich noch einmal, dass Lilli leben soll. Es ist das Datum, das wie ein Feiertag durch die Familie getragen wird. Es ist der Tag, an dem sich der Vorarbeiter, das Ekel, ausgerechnet, von hinten über die jüdische Zwangsarbeiterin bei Siemens beugt und sie warnt: Sie müsse jetzt ihren Mantel nehmen und aus dem Hinterausgang verschwinden, sofort. Lilli rennt, rennt, und fährt dann, soeben der Deportation entgangen, den ganzen Tag Ringbahn, bis sie sich am Abend zu ihrer Tante getraut.
Nur die Wertheim, sagt ihre Tante, die in einer Drogerie am Roseneck arbeitet, kann jetzt noch helfen. Die Wertheim ist eine ihrer Kundinnen. Sie wohnt im Gartenhaus einer Villa, und schon machen sie sich auf zu dieser Frau, die bis zum Kriegsende in einer Art Arche Noah viele Juden durch den Krieg gebracht haben wird. Lilli versteckt sich dort zwei Jahre lang, ausgestattet mit dem Ausweis einer gefallenen Wehrmachtshelferin namens Ingeborg Eickfeld. Um deren Passbild zu ähneln, färbt sich Lilli die Haare blond. „Ich habe mich aufgenordet“, nennt sie das später.
Dann muss sie sich noch einmal selbst retten, als eines Tages ein SS-Mann an die Tür klopft. Sie, noch in Unterwäsche, wirft sich einen Mantel über und rennt wieder aus der Hintertür. Rennt - und rennt einem anderen SS-Mann in die Arme. Ausweis bitte. Hat sie nicht, sagt sie. Soeben komme sie aus dem Bett eines verheirateten Mannes, sie musste schnell das Haus verlassen. Kann ja jede sagen, sagt der Mann, da öffnet Lilli ihren Mantel und das wenige, das sie darunter trägt, ist Argument genug.
Ihre insgesamt 94 Jahre Berlin halten für die schlagfertige, geistesgegenwärtige Frau nach Verfolgung und Bombenkrieg noch die Liebe parat und danach täglich Kempinski.
Die Mutter starb nach einer Operation, da war Lilli zwölf. Die Mutter hatte die großen Feste ausgerichtet mit dem geputzten Silber und dem Porzellan auf den großen Tischen. Die gab es nun nicht mehr. Der Vater hatte genug zu tun mit seiner Unterwäschefirma. Als er sich das Leben nahm, blieb Lilli noch die Tante in Berlin.
Nach dem Krieg trifft sie in der jüdischen Gemeinde auf Estrongo Nachama. Auch ihn hat die Kriegszeit ungeheuer geprägt, aber auf ganz andere Weise. Er kommt aus Griechenland, seinen Aufenthalt in Auschwitz nennt er „Kriegsgefangenschaft“. Ein erfolgreicher Verdränger. Und ein charismatischer Mann, der ohne Krawatte das Haus nicht verlassen würde. Und nun ihr Mann. Zweierlei ist beiden wichtig: innere Haltung und äußere Form.
Ein Schlüssel zum Glück: Man muss nicht alles so nah an sich heranlassen. Lilly und Estrongo Nachama haben immer zwei Wohnungen, weit genug voneinander entfernt, dass man nicht nur laufen, sondern fahren muss, um zueinander zu gelangen. Sie kennen sich gut genug, um zu wissen, dass sie die Distanz brauchen. Bei ihm, dem legendären Oberkantor der jüdischen Gemeinde, dreht sich alles um die Musik. Notenblätter bilden Türme in seiner Wohnung, man trifft sich bei ihm um den Flügel, den ein befreundeter Pianist oft spielt. Bei ihr dagegen herrscht Ordnung; hat sie Gäste, ist noch am selben Abend alles wieder weggeräumt.
Trotzdem gilt: Die Familie kommt an erster Stelle, da können die beiden noch so sehr gestritten haben. Und wenn jemand anders auch nur einen Hauch gegen Estrongo vorbringt, wird Lilli zur Hyäne. Beide Zustände können nahtlos ineinander übergehen.
Dass Krieg und Nazizeit nie vergessen sind, versteht sich von selbst. Wo aber sieht man das bei einer Frau wie dieser? Bis Ende der sechziger Jahre macht sie mit ihrem Sohn Andreas zu Hause Verdunkelungs-Übungen. Die „aufgenordete“ Lilli Nachama, alias Ingeborg Eickfeld, hätte nach dem Krieg auch sagen können: Das ist jetzt vorbei. Ich bin wieder ich selbst. Aber der helle, stets perfekt ondulierte Schutzhelm gehört längst zu ihr. Sie legt ihn nie mehr ab.
Und noch etwas behält sie bei: die Fähigkeit zur Notlüge. Die hat ihr damals oft das Leben gerettet. Darin ist sie so gut, dass sie sie auch ohne Not einsetzt. „Nein, heute geht es nicht, wir haben das Haus voller Gäste“, sagt sie ins Telefon. Und am Boden sitzt Andreas in seiner Kinderstille und wundert sich, wo all die Gäste sind.
Lilli Nachama arbeitet in der „Friedens-Drogerie“, die ihrer Tante gehört. Sie verkauft Kosmetik, berät mit Vergnügen und wiegt und mischt Wässerchen nach Anleitung. So entsteht für den einzigen Sohn, der gerne beim Mischen zusieht, eine Kindheit mit einem unspezifischen Duft, der die Mutter auch zu Hause umgibt.
Irgendwann beginnen die Jahre im Kempinski am Kudamm. Jeden Wochentag ist derselbe Tisch reserviert, anfangs sind es an die 40 Leute aus der jüdischen Gemeinde, die dort eine ständige aber lose Verabredung haben. Im Winter in der Lobby, im Sommer im Kudamm-Rund. Vielleicht hat Lilli Nachama in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren so viele Kartoffelsuppen, Eintöpfe und Brotreste gegessen, dass sie das nun jahrzehntelang in Torten aufrechnen muss.
Lilli Nachama hält außerdem die Familie zusammen und schreibt lange Briefe an Freunde nach Brasilien. Der Sohn hat ihr vom ersten Gehalt ein Rosenthal-Service geschenkt; sie bleibt ein Leben lang anfällig für schönes Geschirr.
Einer der größten Kräche mit Estrongo ereignet sich, als er mit einer Geliebten zu einem Ball unterwegs ist. Sie lässt ihn dort ausrufen, seine Wohnung stünde in Flammen. Er eilt nach Hause in die unversehrte Wohnung und weiß natürlich, wer dahintersteckt. Als sie mal wieder etwas mehr Abstand braucht, fährt sie für ein paar Monate nach São Paulo, zu Freunden, die 1931 emigriert sind. Danach ist die Beziehung wiederhergestellt.
Sie behält, das versteht sich von selbst, bei allem die Kontur. Sie tuscht ihre Wimpern nicht nur, sie formt sie auch. Sie verlässt nur geschminkt das Haus, die Haare gelegt, die Kleidung makellos. Es sind die Sechziger, man lässt maßschneidern. Sie bringt den Stoff zur Schneiderin und dort beginnt die immer gleiche Zeremonie: Lilli Nachama hat genaue Vorstellungen, kann sie aber nicht formulieren. „Machen Sie, was Sie wollen!“, ruft sie. „Ich vertraue Ihnen.“ Und bei der Abholung: „Aber Kindchen, so doch nicht!“ Und alles wird wieder aufgetrennt.
Feinmotorisch ein Ass, zieht sie jedes Jahr ihre Perlenketten neu auf. Sie kann es nicht leiden, wenn durch den Abrieb der Haut das Band nicht mehr weiß strahlt. All die Perfektion wirkt wie eine Imprägnierung, doch die ist auch nicht gänzlich undurchlässig. Einmal angezogen, in der Welt da draußen, benutzt sie zum Beispiel nie ihre jiddischen Sprüche, die Mundart bleibt in der Familie. Doch der Sohn, inzwischen ganz Historiker, sammelt die Ausdrücke über Jahre und veröffentlicht 1997 das Buch „Jiddisch im Berliner Jargon.“
Zweimal im Jahr zu den großen jüdischen Feiertagen lädt Lilli Nachama die Familie zu einem großen Abendessen, sie zieht den Tisch aus für zehn bis zwölf Leute. Feines Geschirr ist genügend vorhanden, sie hat ein eigenes Esszimmer, ein Servicebord. Mit diesen Sehnsuchts-Szenarien stellt sie ihre frühe Kindheit wieder her.
Wenn der Sohn sie erreichen will, es ist die Zeit vor den Handys, fährt er halt ins Kempinski. Stilecht hat sie auch ihren ersten Oberschenkelhalsbruch im Hotel, noch in der Nacht wird operiert, da ist sie schon Mitte achtzig. Erste Frage um sieben im Aufwachzimmer: Wo ist meine Schminke? Die soll sofort gebracht werden. Doch der Sohn fährt noch ins Büro, dann erst zu Hause vorbei, um elf ist er wieder in der Klinik. „Zu spät!“ Der Chefarzt ist schon da gewesen.
Der Wille ist ungebrochen. Sie will weiter ihre Kniebeugen und Liegestütze machen. Der Sohn soll ihr Hanteln bringen. Und kann sie gleich wieder mitnehmen: „Zu leicht!“
Estrongo ist schon lange gestorben, jeden Sonntag führt der Sohn sie nun zum Essen aus und erzählt ihr die Geschichten, die er über die Woche für sie gesammelt hat. Wo sie denn gerne hingehen würde? Egal. Bedingung: Es muss eine Tischdecke auf dem Tisch liegen, möglichst eine weiße. „Und wenn wir schon essen gehen, dann kannst du dir wenigstens was Vernünftiges anziehen.“ Ihr Sohn ist inzwischen Historiker, Rabbi und Direktor der Gedenkstätte „Topographie des Terrors“.
Im letzten Winter wird sie so schwach, dass sie immer wieder ins Krankenhaus muss. „Soll ich dir die Schminke bringen?“, fragt Andreas Nachama. „Nein, es ist nicht mehr nötig.“ Es bleiben ihr noch 14 Tage. Deike Diening