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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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„Ich wollte doch nur mal ein bisschen in die Welt gehen“

Nachruf auf Silke Müller (Geb. 1974)
Silke?“ Ein lang gezogener, ängstlicher Ruf in der Dunkelheit. „Silke? Wo bist du?“ Keine Antwort. Die Mutter, der Vater, die Großeltern suchen die Gegend ab, Silke ist noch klein, Stunden verstreichen, nichts, kein Zeichen. Sie schreien den Namen jetzt. Und dann die erlösende Stimme: „Sie ist hier.“ Seelenruhig sitzt Silke am Rand eines Sees und sagt zaghaft in die über sie gebeugten, erregten Gesichter: „Ich wollte doch nur mal ein bisschen in die Welt gehen.“
Sie war einfach losgelaufen. So, wie sie öfter noch einfach loslaufen sollte. Dass sie dabei Leute vor den Kopf stieß, blieb nicht aus.
Ihre Eltern besaßen einen Bauernhof in Biblis, arbeiteten von früh bis spät, ein Leben mit klarer, fester Struktur, „ein bisschen in die Welt gehen“, das deuteten sie als Müßiggang und Unordnung. Müßiggang und Unordnung, verlockende Worte hingegen für Silke, die es satt hatte, über das flache Land mit dem Kernkraftwerk am Horizont zu schauen, die nicht mehr auf den Feldern der Familie und dann, so war es vorgesehen, bei Mercedes arbeiten wollte. „Ein Studium, Kind, das sind doch Flausen und teure dazu“, sagten die Eltern. So verließ Silke Biblis, ihren Flausen auf der Spur.
Sie begann ein soziales Jahr in einer Münchener Klinik, merkte aber schnell, dass das nichts war. Also weiter, nach Ibiza. Das Mittelmeer, die Sonne, Jobs für ein Zimmer, für den Kaffee auf einer Terrasse, Freiheit. Dann, nach ein paar Monaten das Studium, Germanistik und Englisch an der TU in Berlin, zwischendurch ein Auslandssemester in Pisa.
„Kennst du das Land?“, fragt Mignon, das knabenhafte Mädchen aus einer Truppe fahrender Schausteller. „Es muss wohl Italien sein“, antwortet Wilhelm Meister. „Italien!“, sagt Mignon. „Gehst du nach Italien, so nimm mich mit, es friert mich hier.“ Silkes Sehnsucht: nach Wärme, nach Weite. Sie fuhr, so oft es ging, nach Italien, nach Carrara, in eine Jugendherberge, vorn das Meer, hinten die Marmorsteinbrüche. Sie verwandelte sich, wenn sie italienisch mit Italienern sprach, senkte ihren Kopf nicht mehr, gestikulierte übermütig, gelöst. Auch das Sehnsüchte: selbstsicher vor andere treten, eine Rolle spielen, ein Kostüm tragen. Sie lief über die italienischen Märkte, kaufte sich gebrauchte, bunte Kleider und fotografierte sich darin als schmales Mädchen, unbeschwert. Sie mochte diese Fotos mehr als das Bild, das sie sah, wenn sie in den Spiegel blickte. Zu dick fand sie ihr Gesicht, das rund und zart war. Hinter Verkleidungen, fand sie, fiel der Mangel nicht so auf. Hinter Verkleidungen auf Bühnen noch weniger. Sie begann, als Komparsin zu arbeiten. In „Anonymus“, dem Shakespeare- Film von Roland Emmerich, der in Babelsberg gedreht wurde, gab sie eine Magd in schwerem, samtenen Stoff und mit goldenem Netz im Haar. Sie wurde zu einer Frau in den Zwanzigern und einer während des Zweiten Weltkrieges. Sie trat in der Komischen Oper auf. Spielte sie nicht, gab sie Deutschkurse für Ausländer, unterrichtete Yoga und Qigong, brach alles ab, versuchte etwas Neues, ließ es wieder fallen.
Eine Kreisbewegung, die zu Schwermut führte, zu körperlichen Schmerzen. Die Zwänge überall, sie hielt sie nicht aus, das Jobcenter, die Nachbarn mit ihrer lauten Musik. Vielleicht blieb sie bei Sebastian, und rannte nicht gleich wieder weg, weil er die leichten, schönen Dinge mit ihr unternahm, Radtouren ins Grüne, Brombeeren pflücken, Holz für den Ofen sammeln. Weil er, wenn sie allein nach Italien wollte, sagte: „Fahr. Fahr unbesorgt.“ Weil er begriff, dass sie nicht einfach floh, sondern etwas lebte, zu dem anderen der Mut fehlt: Mit kaum einem Pfennig in die Welt gehen.
Sie kam ja auch immer wieder zurück. Nach Berlin, nach Biblis. Weite ist ohne Enge nicht auszuhalten. Als ihre Mutter das Haus umbaute, bestand Silke darauf, dass ihr altes Zimmer unberührt blieb mit den kindlichen Möbeln, den Sternen an der Decke. Aber wenn sie wieder abreiste aus Biblis und am Berliner Hauptbahnhof eintraf, atmete sie auf, erleichtert, der Provinz entkommen zu sein.
Am 30. Dezember 2016, der Vormittag ist sonnig, fährt sie mit dem Rad an einen See in Malchow, setzt sich ans Ufer, hört Depeche Mode, schaut übers Wasser, stundenlang, sie denkt an Sebastians Geburtstag morgen, an den Tag, den sie in Bad Saarow verbringen werden wie jedes Jahr, steigt am Nachmittag wieder auf ihr Rad, fährt und fährt, dann ein Polo, der links abbiegt, ein stumpfes Geräusch, Stille.
Am 4. Januar 2017 stirbt Silke. Bestattet wird sie in einem Kleid aus weißem Brokat und rosa Tüll. Sie wollte in diesem Jahr historische Tänze lernen und nach Carrara fahren, einige Wochen vielleicht. In ihrem Zimmer liegt der Koffer, schon halb gepackt. Tatjana Wulfert