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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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„Warst du verliebt?“, fragt die Enkelin. „Aber ja“, sagt Oma Erika leise

Nachruf auf Erika Briese (Geb. 1925)
Jahr für Jahr verabschiedet sie sich und ist sicher, dass es ihr letzter Geburtstag, ihr letztes Weihnachten, ihr letzter Sommer sein wird. Doch die Zeit vergeht und Erika sieht erst ihre Enkelkinder groß werden und dann ihre Urenkelinnen: wie sie zur Schule gehen, ihr Abitur machen, ihr Studium beginnen. Und Erika? Die ist immer noch da und staunt: Was die Mädchen heute alles aus sich machen und was sie alles lernen können. Am liebsten fragt sie ihre Urenkelin über ihr Lehrerstudium aus: „Wenn ich das damals alles beigebracht bekommen hätte, vielleicht wäre ich ja doch noch Lehrerin geworden.“
1944 wurde Erika vom Reichsarbeitsdienst eingezogen, mit 19 als Hilfslehrerin. Lehrerin sein, das konnte sie sich schon vorstellen, aber nicht so. Zack. Zack. Nach nur sechs Wochen Vorbereitung, rausgerissen aus dem geliebten Elternhaus, weit weg, in Brünn. Auf sie blickten 50 Kinder und denen sollte sie Mathe und Deutsch beibringen und sie mit Durchhalteparolen füttern. Doch die Kinder hatten Hunger und Angst um ihre Väter und vor den Bomben. „Schrecklich war das, nicht auszuhalten, das hat mir den Beruf verlitten.“
Die Stärke, sich da durchzubeißen, die hatte sie nicht. Woher sollte sie die auch nehmen? Behütet wie sie aufgewachsen war, einzige Tochter einer bürgerlichen Familie, deutsche Minderheit in Tschechien. Ihr Vater war der Held, seine Abenteuergeschichten erzählte sie wieder und wieder. Wie er sich nach dem Ersten Weltkrieg allein durch die Wüste Gobi geschlagen hat, in Vancouver und Argentinien landete. Seine Weltgewandtheit, sein Wissen und seine charmante Art beeindrucken sie. An die langen Spaziergänge mit ihm, Berg rauf, Berg runter, durch die Wälder erinnert sie sich sehnsüchtig zurück.
Charmant, weltgewandt und stattlich war dann auch dieser Offizier. Sie: allein in Brünn, er dort stationiert. Groß, dunkle Haare, strahlend blaue Augen, etwas älter. „Ein Knaller“, flüstert sie ihrer Enkelin zu. - „Warst du verliebt?“, fragt die Enkelin. - „Aber ja“, sagt Oma Erika. Viel mehr erzählt sie nicht davon. Ein bittersüßes Geheimnis. Kurz vor Kriegsende musste er an die Front. Sie floh nach Prag. Was ihr von ihm blieb? Ein Foto, die Erinnerung und ein Kind, das in ihrem Bauch heranwuchs.
Eben noch hat sie ihr Abitur gemacht, ist Ski gefahren und hat Tennis gespielt. Jetzt ist alles anders. Ihren Jungen bringt sie im Januar 1946 zur Welt, in Leipzig, wo es sie nach der Vertreibung aus Prag hin verschlagen hat. Kein Essen, keine Windeln, keine Babynahrung, keine Kinderkleidung, und dann ist er krank, immer wieder muss er ins Krankenhaus. Beschützen ist schwer, wenn man nicht gelernt hat, wie das geht. Wenn man nicht weiß, woher man die Kraft dafür nehmen soll.
Doch dann kommt Retter Alfred. Sagen wir, der vermeintliche Retter. Wieder einer, der weiß, wie man strahlt: galant, von Welt, stattlich. Er nimmt sie und den Jungen mit nach Berlin, beschützt sie, heiratet sie, organisiert, was zum Leben nötig ist.
Als Kriegsdienstverweigerer musste er im Strafbataillon kämpfen, überlebte einen Kopfschuss, irgendwie. Der Versuch einer Erklärung für die folgenden Jahrzehnte.
Erika blieb ihm treu. Treu, als er ihren Jungen demütigte, immer wieder und wieder. Treu, als er ihr untreu wurde. Sie hielt seine despotischen Stimmungen aus. Wenn ihn was ärgerte, brüllte er herum und schmiss den Schreibtisch um. Sie hätte gehen können, war längst finanziell unabhängig. Arbeitete für die Berliner Meldebehörden, stellte Pässe aus, kassierte die Gebühren, 40 Jahre lang. Hier gab es für sie Bestätigung. Hier fühlte sie sich wohl. Doch sie hielt ihn aus, fühlte sich verpflichtet. Als er krank wurde, brachte er seine Affäre mit. Zu dritt wohnten sie da nun. Zu zweit pflegten sie ihn. Als er starb, liefen sie zusammen hinter seinem Sarg her.
Auch wenn sie es so nicht sagen würde, es war eine Erleichterung, dass er nicht mehr da war, für alle. Endlich hatte die Familie ihre Oma und Uroma für sich. Jedes Wochenende kam sie vorbei. Fühlte sich wohl, erzählte aus ihrem Leben und half, wo sie konnte: kochen, Wäsche machen, auf die Jüngsten aufpassen, auch mit Geld half sie aus. Sie kam sogar mit in den Urlaub. Eine gute Familie, endlich.
Wenn ihre Enkel und Urenkel über sie sprechen, ist so viel Wärme in ihren Stimmen, in ihren Gesichtern: „Wie sie immer in ihrem Ohrensessel gesessen hat, die Beine übereinandergeschlagen und mit den Armen gestikulierend.“ „Wie sie stundenlang über ihren Vater erzählt hat.“ „Wie sie ihren Garten geliebt und gepflegt hat.“ „Wie sie uns immer geholfen hat.“ „Wie wir sie zu ihren Geburtstagen zwingen mussten, mit uns zu feiern, und wie es ihr am Ende immer wieder gefallen hat.“
Nur einer fehlt in dieser Runde. Es ist ihr Sohn. Er kann ihr nicht verzeihen. Dass ihr die Kraft gefehlt hat, ihn zu verteidigen. Seine Wunden sind zu tief. Bis zum Schluss steht das zwischen ihnen.
Im Oktober dann, mit 91, macht sie Schluss mit ihrem Leben. Diese Kraft hat sie dann. Karl Grünberg