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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Das Mütterliche lag ihr, im Hausfraulichen zeigte sie Schwächen

Nachruf auf Edeltraut Fehrmann (Geb. 1916)
Die langen Haare, versicherte Edeltraut ihrer Schwiegertochter, sind der Schmuck einer Frau. Deshalb dürfe man sie niemals abschneiden, allenfalls die Spitzen kappen. Edeltrauts dunkle Haare reichten ihr bis zu den Kniekehlen, auch wenn das niemand ahnte. Sie rollte sie morgens ein und steckte sie hoch. So blieben sie bei ihr bis ins hohe Alter, wie Möbel, Bilder, Briefe, Spielzeug, der getrocknete Brautstrauß und Fotos, an denen ihr Herz hing.

Nicht wenige Männer verliebten sich in Edeltrauts Haare und ihre warmen, etwas verträumten Augen, als sie ausging ins „Clou“, Berlins größtes Tanzlokal, lange vor dem Krieg. Sie arbeitete als Sekretärin bei „Klangfilm“, einer Filmproduktionsfirma, verdiente eigenes Geld, aber im „Clou“ hielt sie sich den ganzen Abend an einer Zitronenlimonade fest. Ernst, den Soldaten, lernte sie auf einem „Kriegerball“ kennen. Er hatte auch sehr schöne dunkle Haare und ein schmales Peter-Alexander-Gesicht. Ein uniformierter Traumprinz, den viele Frauen anhimmelten. 1940 heirateten die beiden.

Ernst musste an die Front, aber Edeltraut hatte die Gabe, das Untragbare und Unsagbare dieser Welt aus ihren Gedanken zu verbannen. Im Traum blieb Ernst bei ihr. Sie schrieb ihm Briefe, jeden Tag, um ihre Träume zu nähren. Es gibt einen großen Packen dieser Briefe in vergilbten Umschlägen, einer datiert auf den 1. Juli 1944, ihren Geburtstag. Damals galt Ernst nach der US-Invasion in der Normandie als verschollen. Edeltraut bedankt sich für den Rosenstrauß, „der ist von Dir gewesen, liebster Mann ? Du selber konntest ja noch nie zu meinem Geburtstag Blumen überreichen, aber ich weiß, Du hättest es gerne getan, wenn Du hier gewesen wärst, und so hat ihn Mutti für Dich geschenkt.“

Ernst kehrte wohlbehalten zurück.

Edeltraut war bald wieder Sekretärin, weil man ja unbescholtene Leute brauchte. Im Bezirksamt von Kreuzberg stieg sie bis ins Vorzimmer des legendären Bürgermeisters Willy Kressmann auf, doch bald musste sie das Zimmer wieder räumen. Die Gewerkschaft machte Druck, weil Ernst inzwischen auch im Bezirksamt arbeitete. Und Edeltraut war Mutter geworden. Sie fügte sich.

Das Mütterliche lag ihr, im Hausfraulichen zeigte sie Schwächen, im Allgemeinmenschlichen war ihre Expertise aber unschlagbar. Mit wenigen Fragen durchdrang sie komplexe Verwandtschaftsstrukturen fremder Leute. Im Taxi reichten ihr wenige Kilometer, da lag das Leben des Fahrers wie ein aufgeschlagenes Buch vor ihr. Von Menschen und ihren Schicksalen konnte sie gar nicht genug hören. Sie las auch Romane, aber künstlich geschaffene Figuren fand sie eigentlich nicht so spannend.

Politiker hatten für sie auch etwas Künstliches, deshalb versuchte sie immer, das Persönliche im Politiker auszuforschen. War er ehrlich oder tat er nur so? Bescheiden sollte er auch sein. Als es plötzlich viele Kommunisten gab, kurz nach dem Krieg, unterschied sie in Kommunisten und Edelkommunisten. Später gab es auch Sozialdemokraten und noch später sogar Christdemokraten. Doch das Präfix Edel blieb ihnen verwehrt. Der mächtigste Christdemokrat, Helmut Kohl, fiel bei Edeltraut glatt durch. Ähnlich erging es seinem Nachfolger Gerhard Schröder im Brioni-Anzug. Zu viel Show, zu viel Arroganz, zu wenig Schicksal.

Edeltraut war in Westpreußen zur Welt gekommen, im Bahnhofsgebäude von Prust, Kreis Tuchel. Ihr Vater war Reichsbahnbeamter, ein schlanker Kerl mit Uniform und Kaiserschnauzer. Als der Kaiser abtrat und der Krieg verloren war, fiel Westpreußen an Polen und Edeltrauts Familie siedelte nach Berlin um. Das war insofern schade, weil Edeltraut lieber auf dem Land gelebt hätte, inmitten von Blumenwiesen unter einem weiten Himmel.

In Berlin lebte sie in der Kreuzbergstraße 76, 77 Jahre lang im selben Haus, mal vorne, mal hinten. Das Haus wollte sie nicht verlassen, schließlich war es schon alt und ihr immer treu geblieben. Edeltraut wurde mitsamt ihrem Hausstand zum Gedächtnis der Familie.

Dann musste sie doch ins Pflegeheim. Die Ärzte sagten, sie sei „multimorbide“, da sei nicht mehr viel zu kurieren. Edeltraut wollte aber noch nicht loslassen. Die Pfleger und Schwestern, so viele Schicksale, die sie noch nicht kannte. Sie ließ sich künstlich ernähren und redete und fragte und lächelte, bis ihre Kräfte versiegten.Thomas Loy