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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Er hasste Interpretationen. Interpretieren beendet das Staunen

Nachruf auf Mike Corkill (Geb. 1969)
Was machst du, wenn du berühmt wirst und ganz viel Geld verdienst?“, fragt ihn eine Freundin. „Dann könnte ich nicht mehr malen“, sagt Mike Corkill. Er hat Angst davor, entdeckt zu werden.

Seine Freunde reden ihm zu: Wenn du eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis bekommen willst, musst du krankenversichert sein. Und die Behörden müssen sehen, dass du erfolgreich bist. Denn Deutschland will erfolgreiche Menschen. Du musst bekannt werden. Du brauchst eine Einzelausstellung.

Leider hasst er den Galeriebetrieb: Der besteht doch nur aus Leuten, die herumstehen, Sekt trinken und sich über Bilder unterhalten, aber selbst nicht malen. Trotzdem macht er sich an die Arbeit: Monatelang malt er an 19 großen Bildern. Am Nachmittag des 30. Januar erfährt er, dass es mit der Ausstellung erst mal nichts werden wird. Er trinkt Wein. Er fährt in sein Atelier, trinkt mehr Wein. Um Mitternacht bricht er auf und taucht nicht wieder auf. Seine Freunde und seine Geliebte Christine gehen zur Polizei. Sie hängen Vermisstenanzeigen in Läden und Cafés. „Mike Corkill, 165 cm groß, braune Cordhose, langer schwarzer Mantel, schwarze Stiefel. Seit Sonntag, 30. 1. verschwunden. Letztmals in der Manteuffelstraße gesehen.“ Am 30. März wird er unter dem Steg des Theaterschiffs am Urbanhafen gefunden, ertrunken. Niemand weiß, wie es passierte. Er war enttäuscht, betrunken, gekränkt und krank. Er war aber auch frisch verliebt, voller Tatendrang.

Er hasste Interpretationen. Denn Interpretieren beendet das Staunen. Jetzt trösten sich seine Freunde damit, dass das Staunen über seine Bilder weitergeht, über Clowns, Punks, Mistgabeln, Teufel, Engel, Ritter, Bären, Palmen, Pyramiden, Heilige, Bomben, Skelette, Polizistinnen, Gitarristen, Koalas und Anker.

Mike Corkill stand jeden Tag um 8 Uhr 30 auf, stellte die große Espressomaschine auf die Herdplatte, machte 30 Liegestütze und 50 Sit-ups in der Küche, ging mit dem Espresso ins Atelier und klappte sein Tagebuch auf. Er schrieb alles auf, was nebensächlich war, aber wichtig. Wen er am Tag zuvor getroffen hatte. Was er heute würde einkaufen müssen. Wie viel Geld er gestern ausgegeben hatte und wofür. Er notierte das so präzise, weil er Alltägliches oft vergaß.

Dann plante er seinen Tag. Welches Bild er wann fertigstellen würde, was er in der Bibliothek nachschauen müsse, wann er wen treffen würde. Dann zeichnete und malte er und schaute auf keine Uhr. Dann wurde es Abend und er trank Rotwein.

Am letzten Donnerstagabend jedes Monats, wenn der Museumseintritt frei war, schaute er sich Bilder in Berliner Museen an. Goya, Zille, Grosz, Dix, Bosch. Comics und die Kirchen-Malereien des 15. Jahrhunderts, alles war wichtig, erregend, großartig.

Aber Mike Corkill war kein bisschen bildungsbeflissen. Er hatte einen Heißhunger auf die Bilder des alten Europa. Vielleicht hing das mit seiner Herkunft zusammen. Geboren in Neuseeland, kam er mit zwei Jahren nach Kanada. Er heiratete, brachte sich das Zeichnen und Malen bei und sehnte sich nach Kultur. Er reiste. Er lernte Katalanisch, Englisch, Italienisch, Französisch, Spanisch und Deutsch. Er sah Antwerpen, Barcelona, Sardinien, Mailand, die Bretagne, Paris, Marokko. 1999 kam er nach Berlin. Die Stadt löste ihre Grenzen auf und machte ihre Widersprüche produktiv, sie fand ihre Identität in der Suche nach ihr. Mike Corkill muss sich darin erkannt haben.

Er entwarf Speisekarten für Restaurants und Hot-Dog-Stände, er kolorierte und verkaufte Zwischenskizzen auf Packpapier. Er wohnte in einer Berliner Wagenburg. Im Winter verbrannte er manchmal Zeichnungen im Ofen. Ölgemälde tauschte er gegen ein warmes Essen, Farbe, eine Leinwand oder Wein.

Fotos und Selbstporträts aus dieser Zeit zeigen einen hageren Corkill, der den Betrachter düster anschaut. Es liegt nah, ihn für schwermütig zu halten, aber seine Freunde sagen, er sei es nicht gewesen. Nachdenklich ja, scheu, wütend auf die Gegensätze zwischen Arm und Reich, auf die Politik. Traurig aber nicht. „Berlin hat einen wunderbaren Maler verloren und wir einen wundervollen Freund“, schreiben sie in einem Nachruf.

Ein Trauma war die „Deportation“, wie er sie nannte: 2006 wurde er in Perpignan verhaftet; sein Visum war abgelaufen. Man führte ihn in Handschellen ab und flog ihn über Bangkok nach Neuseeland. Dort war er geboren, dort gehörte er aber nicht hin. Zwei Jahre blieb er dort und in Australien, bis er genug Geld für den Flug nach Europa gespart hatte. Den Unterhalt für seinen Sohn in Kanada brachte er stets zusammen. Deutsche Freunde hatten angeboten, ihm Geld für den Flug zu schicken, doch das kam nicht infrage. Er wollte sich nicht aushalten lassen; übrigens auch nicht vom Staat.

„Sicherheit hat er abgelehnt. Er ist dem Gespräch darüber immer aus dem Weg gegangen“, sagt ein Freund. Die Angst davor, noch mal abgeschoben zu werden, ließ ihn auch nach seiner Rückkehr nach Berlin nicht mehr los. Andreas Unger