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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Sie wusste, wie man ideologischen Verführungen erliegt

Nachruf auf Micha Evers (Geb. 1925)
Biologie-Unterricht an einem Potsdamer Lyzeum 1943. Die Abiturientinnen sollen die „Rassenzugehörigkeit“ ihrer Mitschülerinnen bestimmen. Der Schädel wird vermessen, der Körperbau bewertet. Mechthild Schoof schreibt „ostisch“ neben den Namen ihrer Freundin an die Tafel. Die „ostische Rasse“ gilt als „minderwertig“. Mechthild versucht die Freundin zu trösten: „Du weißt doch, dass das Quatsch ist!“ Als sie 70 ist, schreibt sie: „Bis auf den heutigen Tag schäme ich mich dafür, dass ich damals nicht den Mut hatte, laut Nein zu sagen.“

Nach der Scheidung der Eltern zieht sie als Achtjährige mit Mutter, Schwester und Oma von Eisleben in Sachsen-Anhalt nach Potsdam. Wegen ihres Dialekts wird sie in der Schule beargwöhnt. Umso schöner, beim „Bund Deutscher Mädel“ dazuzugehören. Mit der Kindergruppe geht sie wandern und zelten. Das begeistert sie – und die Nazi-Ideologie sickert in „kindgerecht verzuckerter Dosis“ in ihr Denken; so beschreibt sie es später selbst. Sie wird es jüngeren Menschen begreiflich machen, welchen Verführungen sie erlegen ist und dass man herrschende Meinungen hinterfragen muss. Sie erzählt ihre Geschichte und schreibt sie auch auf. Die Hefte veröffentlicht sie in kleiner Auflage.

Als der Krieg vorüber ist, läuft sie von Berlin in Richtung Ostsee, um Carl- Heinz Evers, „Kalle“, zu treffen, der dort stationiert ist. Unter den pubertierenden Schulmädchen war es schick, Feldpostbriefe an unbekannte Soldaten zu schicken. Kalle antwortete ihr, und sie heirateten noch im Krieg. Auf dem Weg zur Ostsee wird sie mehrfach von russischen Soldaten vergewaltigt. Lange fällt es ihr schwer, sich ihre Verletzung einzugestehen, weil sie glaubt, die Vergewaltigungen als Sühne für ihre Schuld als Deutsche hinnehmen zu müssen. Auch das eine Geschichte, die sie später erzählen wird.

Während Kalle studiert, verdient „Micha“, wie sie sich nun nennt, als Bauzeichnerin das Geld. Die Bauzeichnerei hat sie von ihrem Vater, dem Architekten, gelernt.

Die erste Ehe hält nicht lange. Micha findet eine Stelle in Nordrhein-Westfalen – und zieht 1951 nach Berlin, um Kalle ein zweites Mal zu heiraten. Die kleine Ulrike, die aus ihrer Beziehung mit einem verheirateten Mann stammt, nimmt er als Tochter an. Zwei weitere Kinder kommen hinzu: Sabine und Martin.

Auch die zweite Ehe ist schwierig, ganz besonders in den sieben Jahren, als Kalle Schulsenator ist. Er arbeitet lange und ist angespannt und gereizt, wenn er nach Hause kommt. Micha ist Mutter und Hausfrau und würde lieber arbeiten gehen. Mit anderen Senatorengattinnen muss sie Smalltalk halten über den Ärger mit dem Hauspersonal, das sie nicht hat.

1969 nimmt Micha endlich eine Arbeit auf: Als pädagogische Mitarbeiterin hilft sie Schülern der Walter-Gropius-Gesamtschule bei den Hausaufgaben und unterrichtet manchmal sogar selbst. In ihrer freien Zeit singt sie im linken „Hans Beimler Chor“, klebt selbst gestaltete Plakate für die Friedensinitiative Wilmersdorf, schreibt eine politische Revue, tritt als Zeitzeugin auf und geht demonstrieren. Regelmäßig sind die Enkel bei ihr.

In den siebziger Jahren, nach Kalles Senatorenzeit, rücken die beiden Stück für Stück näher zusammen und holen nach, wozu bis dahin die Zeit gefehlt hatte. Sie feiern Feste, reisen nach Schweden und bauen mit Freunden ein Wochenendhaus bei Helmstedt aus.

Als Kalle stirbt, beschließt sie zurechtzukommen. Sie ist es gewohnt, ihre Gefühle zurückzustellen. Ein halbes Jahr lang sieht es so aus, als ginge ihr Plan auf. Dann legt sie sich ins Bett, liest in Kalles Autobiografie, löscht das Licht, schläft ein und stirbt. Die Kinder glauben, es war Liebeskummer. Candida Splett