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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Schließlich übersah sie niemand mehr

Nachruf auf Irma Daske (Geb. 1935)
Die Leute hätten sie sehen müssen. Sie liefen an ihr vorüber, wenn sie den Raum betraten oder ihn wieder verließen. Und sie übersahen sie. Sprachen miteinander, als seien sie allein. Vielleicht, weil sie noch ein Kind war. Vielleicht, weil es in ihrer Natur lag, lieber unsichtbar zu bleiben.

Aus dem Verborgenen heraus konnte sie die Menschen ungestört beobachten. Irma Daske war zwölf, als sie in Berlin, im Erdgeschoss der Villa des Barons von Oppenheim lebte. Ihre Mutter führte den Haushalt und kochte, ihr Vater servierte. Irma indessen betrachtete das Leben des Barons, ein Dandy- Leben ohne Geldsorgen, mit zahlreichen aufgeputzten Damen, die kamen und gingen.

In ihrem pommerschen Dorf, das sie 1945 hatte verlassen müssen, hätten die Menschen solch ein Leben „liederlich“ genannt. Aber Pommern war weit weg. Erst Jahrzehnte später, zusammen mit ihrem Mann und dem polnischen Schwiegersohn, fuhr sie zurück in ihr Dorf, erkannte alles wieder: Von diesem Baum habe ich Äpfel gepflückt, in diesem Stall standen die Kühe, diesen Weg entlang bin ich zur Schule gelaufen. Ihr Mann verstand, was sie sah, wovon sie sprach, wie sie hatte er diese Gegend fluchtartig verlassen müssen.

Begegnet aber sind sich die beiden erst in Berlin in Begleitung ihrer Eltern, die einander kannten, sich hin und wieder einluden. 1961 heirateten Irma und Werner, der Theologie studierte, um Pfarrer zu werden. Im Jahr darauf bekamen sie ihr erstes Kind.

Davor hatte Irma begonnen, die Handweberei zu erlernen. Doch die Knie schmerzten, wenn sie am Webstuhl saß. Sie brach die Lehre ab, lernte Buchhaltung, arbeitete bei der Inneren Mission, ließ sich des Abends zur Katechetin ausbilden und unterrichtete an einer Steglitzer Grundschule. Als das zweite Kind geboren wurde, gab sie die Stelle auf, was jedoch keineswegs hieß, dass sie von nun an zu Hause blieb, sich allein um den Haushalt und die Kinder kümmerte. Sie wurde eine Pfarrfrau.

Zu jener Zeit war es noch üblich, dass der Pfarrer mit seiner Familie im Pfarrhaus neben der Kirche wohnte, die Leute folglich vorbeikamen und klingelten, wenn sie ein Anliegen hatten. Geöffnet wurde ihnen von der Pfarrfrau. Da stand Irma im Türrahmen, vor ihr ein hungriger Mann ohne Bleibe. Irma ging in die Küche und schmierte Butterbrote. Oder sie gründete eine Gruppe für Kinder, die zu jung für den Kindergarten waren. Oder sie half, die Zimmer im „Haus der Stille“ am Wannsee einzurichten, hatte immer neue Ideen, malte und zeichnete, war überhaupt sehr geschickt mit ihren Händen, verstand viel von Entwurf und Gestaltung.

In Bremen, wo Werner eine Pfarrstelle annahm, enthüllte sich ihre Begabung noch weit mehr. Sie entwarf Bühnenbilder, schneiderte Kostüme, stellte Löwen-, Hunde- und Katzenköpfe für die von ihr angeregten Kindertheaterstücke her. Selbst im Bremer „Theater am Schnoor“ spielte das kleine Ensemble „Die alte Lokomotive“ vor einer drehbaren Leinwand, die die Illusion erzeugte, die Lok würde tatsächlich fahren.

Niemand lief mehr an Irma vorüber, übersah ihr offenes Gesicht, überhörte ihr schönes Lachen. Erblickte sie das Meer und den Strand, riss sie die Arme empor und jauchzte und rollte sich im Sand, noch mit 70. Sie sagte nun, was sie dachte, auch ihren Kindern, die jetzt ihre eigenen Leben lebten, dennoch anriefen, gerade in schwierigen Situationen, häufig spät am Abend oder in der Nacht. Das Telefon lag immer neben Irmas Bett, sofort hob sie ab, wenn es klingelte, auch früh um drei. Nie hörten ihre Kinder einen Satz wie: Weißt du eigentlich, wie spät es ist? Immer waren da kluge, hilfreiche Gedanken.

Nach 23 Jahren in Bremen zogen Irma und Werner, ohne einen Moment zu zögern, zurück nach Berlin. „Wie schön, dass wir uns haben“, sagte sie zu ihm und er nickte und musste auch ein wenig darüber lächeln, denn jemand, der sagt, was er denkt, erzeugt nicht einzig Harmonie. Im August hätten sie ihre Goldene Hochzeit gefeiert. Im Mai starb Irma Daske. Tatjana Wulfert