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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Funkkanal IV, der ist frei für Streit oder Anmache

Nachruf auf Dorothea Krafzick (Geb. 1947)
Mäh“, blökt es in die Flaute dieser späten Stunde. Wenig los heute, kaum Kundschaft. „Mäh“, antwortet die Herde der Taxifahrer ihrer Zentrale. Heute wieder durch die Nacht mit Dorothea Krafzick. Mit einer Stimme, so tief und so rau, dass sie die Langeweile tötet.
Opernsängerin wollte sie mal werden. Akkordeon- und Klavierstunden nahm sie als Kind, so lange das Geld reichte. Es reichte nicht lange. Und für Gesangsstunden erst recht nicht.
Ihre Bühne bekommt Dorothea Krafzick trotzdem. Als Taxifunkerin ab Februar 1968, ausgerechnet beim Ackermann-Funk, bei den Rabauken. Wo sich einige der Kutscher benehmen wie in der Marlboro-Werbung. Sitzen in ihren Sitzen, als wären sie Cowboys auf wilden Pferden.
Dorothea wird Rabaukendompteurin. „Einen wunderschönen guten Abend, meine Damen und Herren!“ Ihre Stimme wärmt besser als jede Standheizung. Macht den Auftrag zum Ausflug. „Das heißt veräppeln, nicht verarschen“, mahnt sie dunkel in die Berliner Nacht, wenn wieder einer motzt, weil sie die Fahrt an einen anderen vergibt. Der, wie sie blitzschnell überschlägt, näher dran ist.
Den Funk auf dem einen Ohr, das Telefon am anderen, um sie herum lärmen die Kollegen, vermittelt Dorothea Krafzick hunderte Fahrten pro Schicht. Sie ist der Blitzableiter inmitten des Stimmgewitters. Und verwickelt den Anrufer, während er Münzen in der Telefonzelle nachwirft, in eine Unterhaltung, bis die Taxe vorfährt. Damit der Fahrer den Weg nicht umsonst gemacht hat.
Mit so einer Stimme ließe sich Politik machen. Wenn Dorotheas Handy läutet, erklingt ja auch die „Internationale“. Aber sie ist vorsichtig mit jeder Ideologie. Vorbelastet, seit die Mutter, Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins, sie zu den Jungen Pionieren gesteckt hatte - in West-Berlin.
Sie studiert kein Parteiprogramm und sitzt in keinem Zirkel. Gibt auch im Alltag genug zu tun. Schließlich nennt immer jemand an der Bushaltestelle, Supermarktkasse oder in der Kneipe eine Frau Schlampe, einen Homosexuellen Schwuchtel, einen Alten Krüppel oder einen Obdachlosen Penner. Auch die Taxifahrer sind Menschenfeinde. „Schau dir den Neger am Zoo an“, dringt an Dorothea Krafzicks Ohr. Ob sie keinen Mann fänden, der für sie arbeitet, fragen die männlichen Taxifahrer die wenigen Fahrerinnen. Eine Frau gehört nicht ans Steuer, sondern an den Kochtopf. Und die Juden - na ja. Sprüche aus düsteren Zeiten. Dorothea Krafzick funkt dazwischen, widerspricht. Man muss nicht studiert haben, um Unrecht zu spüren. An einem ihrer letzten Tage auf dieser Erde streitet sie im Krankenhaus mit einem Leidgenossen, weil er rassistische Reden schwingt.
In Gruppen muss man sich verbiegen, taktieren. Dorothea aber kann nicht lügen. Partout nicht. Nicht einmal für die gute Sache. Sie gibt zu, wenn sie eine Hausnummer vertauscht oder einen Straßennamen verwechselt hat. „Ich war gestern saufen und bin heute früh nicht aus dem Bett gekommen“, sagt sie. Und riskiert ihren Job damit.
Und dann, als es passiert ist: „Ich habe mich in eine Frau verliebt.“ Denn, natürlich, mit dieser Stimme lässt sich flirten. Und wie. Seit Wochen schon ist allen Kutschern klar, dass Dorothea eine von ihnen besonders mag. Gefunkt hats schnell, 1977.
Es dauert, bis beide ihre Beziehungsgeflechte entknotet haben. Bis Waltraud Schmitt, die Taxifahrerin, Dorothea auf den Quatschkanal bittet. Funkkanal IV, der ist frei für Streit oder Anmache, da werden keine Aufträge vergeben.
Wollen wir uns auf ein Bier treffen? Eckkneipe an der Gneisenaustraße, nach der Spätschicht. „Jetzt bist du bestimmt enttäuscht“, sagt Dorothea zur Begrüßung. Zu klein? 1,55 Meter. Zu niedlich? „Knuffi“ heißt Dorothea Krafzick, seit eine Kollegin ihr in die füllige Seite geboxt hat. Den Namen wird sie nicht mehr los.
Im Gegenteil! Schöner, großer Busen. Waltraud hat sie sich noch runder vorgestellt, bei der vollen Stimme.
Dann küssen sie sich. Und sind fortan ein Paar.
Sie synchronisieren ihre Leben. Dorothea, die gern um fünf am Morgen aufsteht, steigt ganz auf den Nachtfunk um. Arbeiten, wenn andere schlafen.
Waltraud, Pfarrerstochter, die der Enge Süddeutschlands entflohen ist und die Promotion aufgegeben hat, lernt die Welt der Nichtakademiker kennen. Lernt gesellschaftliche Theorie in Alltagssprache zu übersetzen. Erlebt an Dorotheas Leben, wie das geht, froh zu sein mit wenig Geld. Und widerständig trotz Armut.
Dorothea erzählt gern aus der Kindheit in der Charlottenburger Bismarckstraße. Sie wurde als Nachzüglerin geboren, unehelich. Die Mutter sprach wenig, am wenigsten über die Väter der Kinder. Viel Familie war da nicht. Ein Bruder wanderte nach Amerika aus, zwei Geschwister starben als Kleinkinder.
Tags rutschte Dorothea durch Ruinen, bis die Mutter über zerschlissene Kleider schimpfte. Abends aß sie Buletten und Eisbein in der Kneipe der Tante und sang mit den Sängern aus der Deutschen Oper um die Wette. In den schönsten Nächten spendierte die Untermieterin der Krafzicks, eine Jura-Studentin, Dorothea einen Ausflug in die Oper. Ein Leben lang spielte sie deshalb die Platten mit der Sopranistin Erna Berger.
Am Bahnhof Zoo meldet sich kein Taxifahrer. Dorothea räuspert sich in die Stille. Schließlich funkt sie der fünfte in der Wartereihe an, dann der dritte. „Schläft noch jemand davor?“, stichelt die Zentrale.
Selbst Kunden erkennen ihre Stimme über Funk. „Ist das wieder Knuffi? Machen sie mal lauter“, fordern die Gäste auf der Rückbank.
Am Zoo hat Dorothea einst Fahrkarten gelocht und den Boden gefegt. Als Mädchen für alles bei der Reichsbahn, weil da auch schon der Bruder gelernt hat. Sie wollte zwar lieber Tierhändlerin werden, hatte ja immer mit der Mutter Vögel aufgepäppelt, liebte sowieso Hunde, aber der Beruf war zu unsicher. Und dann sagte ihr eine Freundin: „Quasseln, das kannste doch.“
Autofahren nämlich nicht. Die Frau, die hunderte Taxis durch die Stadt dirigiert, hat selbst nie eines gekutscht. Von Geburt an sieht Dorothea Krafzick auf dem rechten Auge kaum etwas, das linke wird über die Jahre immer müder. Am Schluss muss sie den Stadtplan mit der Lupe lesen.
Aber sie fährt Fahrrad. Verordnet sich selbst eine Fortbildung, Viertel für Viertel, um das Straßennetz Berlins im Hirn zu vervollständigen. So funkt sichs noch schneller.
Spart auf ein Mofa, rot, von Peugeot, jobbt in Kneipen für Seitenspiegel und Lastentaschen. „Ich hab Knuffi gesehen“, erzählen sich die Kutscher in den Achtzigern, wenn einer sie zwischen Spandau und Wannsee oder in ihrer neuen Heimat Neukölln herumkurven sieht.
Die Kollegen schenken Dorothea einen Pokal. Falsches Gold, falscher Marmor, echtes Herz: Unserer Knuffi, zum 20-Jährigen.
Das Taxigeschäft verändert sich. Knuffis Mofa wird ihr vor der Zentrale weggeklaut. Vor der Reemtsma-Zigarettenfabrik warten keine Wagen mehr, um die Malocher ins Bett zu bringen. Schichtarbeiter fahren jetzt mit der BVG. Der Betrieb zahlt ihnen die Heimfahrt nicht mehr. Rentner schleppen sich aus dem Krankenhaus zu Fuß nach Hause. Besoffene torkeln lieber heim.
Nach der Wende fusioniert der Spreefunk mit dem Ackermann. Dorothea soll mehr arbeiten für weniger Geld. Gemeinsam mit zwei Kollegen wehrt sie sich. Dorothea, die Taktik hasst, kämpft im Betriebsrat. Sie geht mit Magenschmerzen zur Arbeit, weil die geschickteste Funkerin Berlins plötzlich nicht mehr funken soll. Weil junge Frauen schlimme Worte über ihren Körper sagen.
Die Kündigung erhält sie fristlos. 2004, Dorothea Krafzick ist 57. Der Richter gibt ihr Recht, aber sie will nur noch raus. Vergleich.
Dorothea lernt jetzt Türkisch, sie putzt Klos in einer Neuköllner Gaststätte. Sie verkauft Karten für Ausflugsschiffe und betreut ehrenamtlich Senioren. Die Rente ist winzig. Urlaub in ihrem Lieblingsland Bulgarien kann sie sich nicht mehr leisten.
Die Taxiwelt, sagt ihre Freundin Waltraud, hat sich verändert, Dorotheas Arbeit ist überflüssig geworden. Selbst, wenn sie darauf bestanden hätte, weiter zu arbeiten.
Die Aufträge kommen jetzt digital, übers Display. Stimmlos. Als wäre mit Dorothea Krafzick der Funkverkehr gestorben. Julia Prosinger