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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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In zwei Armeen ist er hineingeraten, wie von selbst

Nachruf auf Joachim Tappert (Geb. 1924)
Vor ein paar Jahren begann er, seine Erinnerungen aufzuschreiben, sein jüngster Sohn hatte ihn darum gebeten. Der Sohn wollte wissen, wie ein Mann durchs 20. Jahrhundert kam, der zwei Mal die Welt um sich zusammenbrechen sah. Hatte er an das, was da zusammenbrach, tatsächlich geglaubt? Der Sohn mochte seinen Vater, auch wenn der ganz anders war als er.

Joachim Tappert konnte einmal Hitlers Lebenslauf hersagen, er sang die Marschlieder der Nazis, selbstverständlich, er war ja damals Hitler-Junge. Ganz automatisch ist er dort hineingeraten: Seine Kinderspielgruppe in der Leipziger Gartenkolonie wurde 1933 ins „Jungvolk“ eingegliedert. Dort aber war er Außenseiter und musste am Ende der Kolonne laufen. Denn er besaß keine Uniform. Der Vater war arbeitslos, es fehlte das Geld dafür. Joachim hätte sie umsonst bekommen, wenn der Vater Mitglied der Nazipartei gewesen wäre. Er fragte ihn, ob er nicht eintreten wolle, doch der Vater lachte ihn nur aus.

Im Krieg war Joachim Tappert Soldat in Hitlers Wehrmacht – und konnte nichts dafür. Eine Ausbildung bei den Arado-Flugzeugwerken hatte er gemacht und musste schließlich Kriegsflugzeuge reparieren, mal an der West-, mal an der Ostfront. Dort, auf dem Rückmarsch Richtung Westen hat eine Blase an seinem Fuß sich so heftig entzündet, dass schließlich das ganze Bein vereiterte und man ihm glaubte, dass es sich um einen Granatsplitter handelte. Er kam ins Lazarett und erhielt das „Führergeschenk Ost“, eine Flasche Sekt, 20 Reichsmark und einen Blumenstrauß. Als er geheilt war, schickten sie ihn an die Westfront, die gerade zusammenbrach, er desertierte, wurde von den Amerikanern gefasst und verbrachte ein paar Monate in Kriegsgefangenschaft.

Zurück in Leipzig, wurde er Mitglied der SED, auch das ist wie von selbst geschehen. Im Frühjahr 1946 machte ihm ein Nachbar klar, dass es jetzt, nach dem Krieg, darauf ankam, Verantwortung zu übernehmen. Der Nachbar war Kommunist und fand es auch in Ordnung, dass Joachim lieber zu den Sozialdemokraten ging, Hauptsache zu den „Fortschrittlichen“. Es verging nicht mal ein Monat, da reichten sich in Berlin Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck die Hände, und Joachim Tappert war Mitglied der Einheitspartei, die die Macht in der sowjetisch besetzten Zone übernehmen sollte.

Dass er wieder beim Militär landete, war ebenfalls eher den Umständen geschuldet als einem Plan oder gar der Lust auf Drill und Waffenhandwerk. Zunächst wurde er Volkspolizist. In der Parteigruppe hatten sie dafür geworben, es wurden unbelastete, „fortschrittlich eingestellte“ Männer gesucht, die für die Ordnung in der Zone sorgen sollten. Wichtig für ihn war, dass er etwas mehr verdiente als in der Fabrik, und dass es Aufstiegschancen gab. Weil er sportlich war und im Krieg eine militärische Ausbildung absolviert hatte, sollte er Ausbilder und Sportlehrer junger Polizisten werden. Er kam in eine Ausbildungseinheit, welche Teil der „Kasernierten Volkspolizei“ wurde. Zehn Jahre später ging daraus die „Nationale Volksarmee“ hervor, und aus dem VP-Kommissar wurde ein NVA-Oberleutnant.

Waren die Umstände seiner Offizierskarriere eher schicksalhaft, so darf man bei der Anbahnung seiner Ehe planmäßiges Zutun unterstellen. Er war im Juni 1948, als er die schöne Meta kennenlernte, noch junger Polizist. Er bewachte die Zonengrenze zwischen Thüringen und Bayern, da kam sie mit ihrem Bruder angelaufen, auf dem Weg von fränkischen Verwandten zurück nach Hause. Er hätte die beiden ziehen lassen können, denn sie führten keine Schmuggelware mit sich. Doch er war von Meta regelrecht geblendet, und also nahm er sie und ihren Bruder fest. Auf der Dienststelle konnte er ihre Personalien aufnehmen und ihr tief in die Augen schauen. Tags drauf, sie war längst wieder in Freiheit, schrieb er ihr einen Brief: „So gern ich Sie hätte laufen lassen, um Ihnen die Unannehmlichkeiten des ,Im-Keller-Sitzens’ zu ersparen, so sehr war es für mich eine innere Erbauung, Sie noch einige Zeit in meiner Nähe zu wissen ? Noch nie habe ich in so schöne Augen geschaut, wie die Ihren.“ Nur eine Woche später kam der Antwortbrief.

Ihr und ihren Eltern hätte es natürlich gefallen, wenn die Hochzeit eine kirchliche gewesen wäre. Joachim Tappert aber hatte in der Parteischulung vom Materialismus erfahren und beschlossen, Atheist zu werden.

Zurück aber zu jenen Dingen, die sich seinem Zutun entzogen, die ihm mehr geschahen. Es war in den frühen Fünfzigern, da fanden Vorgesetzte bei ihm ein Buch, in dem Hakenkreuze prangten. „Der Tappert ist ein Faschist“, hieß es zunächst, dann untersuchte man die Sache eingehender. Das Buch, einen „Taschenbrockhaus zum Zeitgeschehen“ aus den dreißiger Jahren, hatte er zu Ausbildungszwecken aufbewahrt. Ein alter Karabiner und die „Pistole 38“, die schon die Wehrmacht hatte, gehörten noch zur Ausrüstung der Volkspolizei. Sie waren in dem Lexikon abgebildet, und Joachim Tappert wollte die Schautafeln als Lehrmaterialien verwenden. „Wegen Aufbewahrung und Verwendung faschistischer Literatur“ wurde er mit einer einjährigen Beförderungssperre bestraft.

Am 17. Juni 1953, als Tausende auf die Straßen gingen, um gegen jene Regierung zu protestieren, der Joachim Tappert diente, hatte er Glück. Er musste sich nicht gegen die Demonstranten stellen. Trotzdem ging es ihm nicht gut: „Meine Angst bestand in der Wiederkehr des Kapitalismus. Zudem standen wir kurz vor dem Staatsexamen. Sollten durch einen Kriegszustand all unsere Bemühungen, unser Pauken, Lernen, unsere Entbehrungen umsonst gewesen sein?“ Er atmete tief durch, als die Russen mit ihren Panzern „Ruhe und Ordnung“ wiederherstellten.

Er wurde nach Berlin versetzt, und dann nach Strausberg. Dort befand sich das Verteidigungsministerium der DDR. Womöglich hätte er es zum General gebracht, doch es kam etwas dazwischen: Die Eltern seiner Frau erreichten das Rentenalter und zogen in ihre alte Heimat Franken. Die Schwiegereltern eines Offiziers der Nationalen Volksarmee gingen in den Westen! Konnte die Volksarmee sich auf einen Mann verlassen, der den Klassenfeind in der Familie hatte? Joachim Tappert verlor seinen Posten.

Sein neuer befand sich wieder in Berlin. Im Ministerium für Hoch- und Fachschulwesen organisierte er die militärsportliche Ausbildung der Studenten. Nach wie vor trug er auf der Arbeit seine Uniform und war viel unterwegs. Was er genau tat, wusste niemand in der Familie. Nur der jüngste Sohn kam mit dem Werk des Vaters in Kontakt: Wie alle männlichen Studenten musste auch er in den Semesterferien ins paramilitärische Ausbildungslager und quälte sich über die „Sturmbahn“, einen Hindernisparcours, den sein Vater entworfen hatte. Stolz hat er kaum empfunden, als er durch die Betonröhre kroch und sich über die Holzwand wälzte, zum Wohl der Landesverteidigung, nach Maßgabe des Vaters.

Ganz anders als Joachim Tappert konnte der Sohn keinen Sinn darin erkennen, sein Leben an den Vorgaben auszurichten, die der Staat ihm machte. Freiheit, ein Wort, eine Sehnsucht, die im Denken seines Vaters kaum vorkam. Als er ihm im Sommer 1989 sagte, dass er die DDR verlassen werde, dass er über die Warschauer Botschaft in den Westen fliehen wolle, konnte er nicht auf Verständnis hoffen. Aber es war auch kein Zorn, mit dem der Vater reagierte, eher Verzagen: „Wenn du das so siehst ?“

Joachim Tappert war ja selbst von jener DDR-Müdigkeit befallen, die längst in die sozialistischsten Gemüter eingezogen war. Er hatte erlebt, dass die großen Worte der Parteilehrjahre wenig mit der DDR-Welt zu tun hatten. Nur gehörte er der stillen Mehrheit an, die aus solcher Einsicht keine Konsequenzen zog.

Mauerfall und Wiedervereinigung waren keine freudigen Ereignisse für ihn. Er hatte doch auf der richtigen Seite gestanden, diesmal. Oder etwa nicht? Nun war er aber auch kein Mensch, dem der Lebensmut abhanden kam, weil sich die Staatsform änderte. Er hatte ja Glück, er war inzwischen Rentner und alt genug, um nicht noch mal von vorn beginnen zu müssen. Und er hatte ein flexibles Gemüt. War es früher das „Neue Deutschland“, das er studierte, so las er nun die „Bild“-Zeitung. Diese Freiheit im Denken erstaunte wiederum den Sohn.

Er bat den Vater, sein Leben aufzuschreiben. Der Vater tat das gern, zwei Bände, 550 Seiten. Die Geschichte eines einfachen Mannes in komplizierten Zeiten. David Ensikat