Über den Trauerfall (1)
Hier finden Sie ganz besondere Erinnerungen an Renate Horlemann, wie z.B. Bilder von schönen Momenten, die Trauerrede oder die Lebensgeschichte.
Trauerrede zur Bestattung meiner Mutter am 24.04.2023
07.05.2023 um 21:31 Uhr von MaiIch weiß, dass meine Mutter gewollt hätte, dass es eine Rede gibt auf ihrer Beerdigung, zumindest die Mutter von vor 8 Jahren, also die vor ihrer Krankheit. Wenn sie sie selbst geschrieben hätte, würde sie sicher ganz anders klingen als meine. Aber sie hat keine geschrieben. Und sie hätte wahrscheinlich eine Menge auszusetzen an meiner Rede und viel zu verbessern und vielleicht auch richtig zu stellen. Aber so ist es, wenn man tot ist: man hat überhaupt keinen Einfluss mehr darauf, was die anderen über einen erzählen.
Ich habe versuchte, einen Nachruf zu schreiben. Ich wollte es eigentlich auf meinen Mann abwälzen, aber er wollte nicht und meinte, es stünde ihm nicht zu. Jetzt mache ich es also
Wenn die Mutter stirbt…
Mein schrecklichster Gedanke als Kind war, dass meine Mutter plötzlich sterben würde.
Wie habe ich Kinder bedauert, die keine Mutter mehr hatten: Oliver Twist, Schneewittchen, das Waisenmädchen aus dem Film „Bernhard und Bianca“, die Waisenkinder aus dem Kinderheim in Italien, das nahe an unserem Strand lag, den wir im Sommer immer besuchten, die man erkannte an ihrer Kleidung. Es hieß, die Vollwaisen müssten die Anstaltskleidung tragen, die, die vorübergehend da waren, durften ihre eignen Kleider tragen. Wie leid sie mir taten, die in ihren blauweiß geringelten Oberteilen und blauen Hosen, die mit ihren Strohhüten.
Die Mutter verlieren hieß Geborgenheit verlieren.
An einem Nachmittag, ich spielte auf dem Spielplatz in unserer Straße - der Nikolsburger Straße- kam ein Krankenwagen mit Blaulicht angefahren. Er hielt direkt vor unserem Haus. Alle Kinder liefen hin, um zu sehen, was passiert war. Ich war sicher, dass unser alter Nachbar Herr Sandmann herausgetragen würde. Er war uralt und krank, wurde von seiner Tochter gepflegt, und wir erwarteten schon lange seinen Tod. Aber nein, es war nicht Herr Sandmann, es war meine Mutter, die abgeholt wurde. Ihre Bluse mit den weiten Ärmeln hatte beim Kochen am Gasherd Feuer gefangen. In ihrer Panik rannte sie von der Küche durch das riesige Wohnzimmer ins Bad, um dort das Feuer an ihrem Körper mit der Dusche zu löschen. Es blieb eine Verbrennung 3. Grades unter ihrem linken Arm zurück. Sie musste ins Krankenhaus, um operiert zu werden.
Ich hatte große Angst, dass meine Mutter stirbt.
Dieser Unfall hat uns alle traumatisiert. Aber es war sicher nicht Renates erstes Trauma.
1936 geboren in Charkow (Entschuldige Mama, dass ich es wahrscheinlich falsch ausspreche), erlebte sie an ihrem 5. Geburtstag, dem 22. Juni 1941, den Einmarsch der Deutschen in die Sowjetunion. Und anstatt ein schönes Fest zu feiern mit ihr im Mittelpunkt, saßen alle Erwachsenen da und machten besorgte Gesichter. Was würde nun aus der deutschstämmigen Familie werden, die seit mehreren Generationen in der Ukraine lebte? Was mit dem jüdischen Onkel Sascha, dem Mann ihrer Tante?
Sascha wurde von den Nazis inhaftiert. Aber mit ihrer Hilfe und der ihrer Mutter gerettet. Eine Geschichte, die sie oft erzählte: Ihre Mutter Erna, eine Deutsch-Russische Dolmetscherin, war auf Grund ihrer Sprachkenntnisse für die Nazis interessant als Übersetzerin. Erna und sie gingen also, um sich nach Saschas Verbleib zu erkundigen, und die kleine Renate hatte den Auftrag, den Nazi zu fragen: „Wann kommt denn mein Onkel wieder nach Hause?“, in ihrem guten Deutsch (in der Familie wurde Deutsch und Russisch gesprochen), und ihn mit ihren blauen Augen anzusehen. Der Nazi strich ihr über den Kopf, schenkte ihr einen Apfel, und Onkel Sascha durfte am nächsten Tag nach Hause.
Renates Vater wurde eingezogen und musste für die russische Armee kämpfen. Ihr Vater, ein Lehrer, der der begabten Tochter früh das Lesen beibrachte und sie heranführte an die großen Klassiker der Weltliteratur, starb, wie die Familie viele Jahre später erfuhr, bei einer Gefechtsübung. Der Rest der Familie floh*, Hals über Kopf, mit wenigen Habseligkeiten. Sie lebten in verschiedenen Lagern, und Renate und ihre Mutter Erna landeten am Ende des Krieges in Frankfurt am Main. Genauer in Höchst. In einer winzigen Dachgeschoßwohnung, wo Renate aufwuchs, und wo Erna den Rest ihres langen Lebens verbrachte. Renate ging auf ein Mädchengymnasium, machte Abitur und begann mit ihrem Studium, das sie einige Zeit auch nach Paris führte. Dort, in einem Vorort, hatte sich nach dem Krieg auch Onkel Sascha mit seiner Familie niedergelassen.
In Frankfurt lernte Renate ihren ersten Freund kennen, einen attraktiven Mann aus wohlhabenden Verhältnissen. Aber der junge Jürgen Horlemann (noch nicht mal 21 und somit 6 Jahre jünger als sie), der Fabrikantensohn aus Rheinland-Pfalz, der mit seinem Vater gebrochen hatte und mittellos, aber mit großen politischen Ideen, zum Soziologie-Studium nach Frankfurt gekommen war und sich dort im Studentenheim ein eigenes Zimmer auf dem Flur zimmerte, beeindruckte sie -zur Verwunderung aller- viel mehr. Und als er mit einem VW-Käfer vor ihrer Tür stand und sagte: „Ich fahre jetzt nach Berlin- Kommst du mit?“, zögerte sie nicht und stieg ein.
Nicht lange nach der Hochzeit, kam ihre erste Tochter Merle.
Renate studierte Slawistik, Romanistik und Vergleichende Literaturwissenschaften an der FU-Berlin und bekam dort eine Assistentenstelle, die die junge Familie ernährte.
Die Zeiten waren turbulent, die Studierenden revoltierten, und Jürgen Horlemann war in vorderster Front der APO-Bewegung, beim SDS und dann als Mitbegründer und Parteivorsitzender der KPD-AO. Diese Partei wurde in der Nikolsburgerstraße 11 gegründet, in jener Wohnung, in die die kleine Familie zog, als 1968 das zweite Kind unterwegs war (ich), und in der Renate Zeit ihres Lebens geblieben und auch gestorben ist.
Die Ehe mit Jürgen Horlemann scheiterte. Andere Männer, bevorzugt jüngere Männer, gingen ein und aus. Renate war nicht nur eine kluge und belesene Frau, sie war auch außergewöhnlich schön. Und als sie die 40 überschritten hatte, freute sie sich besonders, wenn man ihr sagte: „Man sieht Ihnen Ihr Alter gar nicht an!“
Um den Rahmen nicht zu sprengen, möchte ich nicht alle ihre Liebhaber erwähnen. Es waren auch nicht alle wichtig. Aber Sam war wichtig, der amerikanische Professor, der sie und die ganze Familie mitnahm nach Amerika und nach Paris, um dort zu leben und zu arbeiten. Die Episode dauerte 5 Jahre. Auslandsaufenthalte bereichern ein Leben, und sie machen Biografien interessanter. Renate sprach viel von dieser Zeit.
Leider schrieb sie nicht darüber. Und auch sonst schrieb sie kaum. Obwohl sie doch so gut schreiben konnte. Zwei veröffentlichte Hörspiele und einige Übersetzungsarbeiten zeugen davon. Und sie dichtete. Zu den Highlights gehörten ihre Limericks, die in der Zeitschrift „Stern“ veröffentlicht wurden, und die sie nicht müde wurde zu zitieren.
Wichtig waren ihr auch Katzen. Sie liebte Katzen, und es waren immer welche da. Überall, wo sie lebte. Auch in ihrem Haus in Italien.
Nach der Trennung von unserem Vater in den frühen 70ern, verreiste sie, wahrscheinlich um dem Schmerz zu entfliehen, mit uns Töchtern nach Italien an die Riviera, in das Haus einer Freundin. Es gefiel ihr da so gut, dass wir mehrere Monate blieben. Dann kaufte sie, mit dem Geld ihrer Mutter, in einem Nachbardorf eine Ruine mit einer großen und schönen Terrasse. Jeden Sommer verbrachte sie dort und lernte natürlich auch die Sprache. Vor allem durch die Familie des italienischen Maurers, der zwei hübsche Söhne hatte…
Aus der Ruine wurde eine Sommerresidenz, vor allem durch Werners Hilfe, der den Ausbau vorantrieb, nicht nur, indem er dem Maurer assistierte.
Werner lernte sie kennen, da war sie fast 50. Werner Ettel, ein Kunstlehrer mit einem Faible für Design, vor allem für das der Firma Braun. Er zog zu ihr in die Nikolsburgerstraße und schleppte immer mehr Braun-Geräte in die vorher eher spartanisch eingerichtete Wohnung. Es wurde ihr zu viel, und Werner musste einen anderen Ort für seine Sammelobjekte finden. Jetzt hat er ein Museum.
35 Jahre haben Renate und Werner zusammengelebt. Schließlich haben sie auch geheiratet. Auf Renates Drängen, denn sie wollte seine Rente bekommen, wenn er stirbt. Sie war sicher, sie würde auf seinem Grab tanzen, obwohl sie 12 Jahre älter war als er.
Sie tanzte nicht auf seinem Grab. Sie bekam Alzheimer, und sie hatte ein Riesenglück, dass Werner sie so liebte und sich so aufopferungsvoll um sie kümmerte. Sie wusste ja gar nicht mehr, wer er ist. Sie wusste überhaupt nicht mehr, wer wer ist, und auch nicht mehr, wer sie ist. Man mag sich nicht vorstellen, wie sich das anfühlt.
Auch ich habe sie die letzten 8 Jahre begleitet. Jeden Montag kam ich, wenn Werner in seinem Museum war. Über diesen Zeitraum habe ich beobachtet, wie die Krankheit sie immer mehr erfasste und ich sie immer weniger erreichen konnte, wie sie sich immer mehr aus dieser Welt zurückzog.
Meine Mutter starb nicht plötzlich, sie starb langsam.
Und sie wird nun beerdigt auf diesem Friedhof, wo auch ihre Mutter beerdigt wurde. Ich erinnere einen Satz der Grabrede, die Mama hielt, in dem sie sich, wie es eben ihre Art war, selbst in den Mittelpunkt stellte:
Wenn die Mutter stirbt, rückt man auf in der Reihenfolge…
Mai Horlemann
* Renate nannte es "Flucht". Zur historischen Wahrheit gehört, dass die Familie "heim ins Reich" geholt wurde.