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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Unbedingt kämpfen, unbedingt leben. Schließlich ist sie jetzt Mutter

Nachruf auf Antje Kaiser (Geb. 1961)
Da ist ein Drängen in ihr. Immer vorwärts, immer weiter, immer gibt es noch etwas, das sie unbedingt machen will. Antje Kaiser will Professorin werden, noch mehr eigene Stücke inszenieren, ein Kind bekommen; das sind die großen Dinge. Englisch lernen, einen bestimmten Mann an ihrer Seite, das Beste aus ihren Schülern herausholen; das sind die kleinen. Keine Pause, die Arbeit maximal und unbedingt, koste es was es wolle, am Ende kostet es ihre Gesundheit.
Ihre Geschichte erzählt ihre langjährige Freundin. An der Humboldt-Universität lernen sie sich kennen, Anfang der achtziger Jahre, Fach Musikwissenschaften. Wie Antje da schon auftritt. Wie sie einen anschaut, draußen auf dem Hof, bei einer Zigarettenpause oder nachts in der Kneipe, in einer durchzechten Nacht. Wenn sie einem zuhört, entsteht das Gefühl, dass man der wichtigste Mensch ist. Das beflügelt, setzt Ideen frei. Später am Theater oder in der Oper arbeiten die Regisseure, Schauspieler und Sänger gerne mit ihr. Auch als Dozentin an der Hanns-Eisler-Schule spricht sie nicht von oben herab, schimpft oder schleift die Fehler. Sie hilft den Schauspielschülern ihr Potenzial zu erkennen, indem sie lobt und bestärkt.
Aber noch ist es nicht soweit. Noch ist 1985, und Antje muss sich entscheiden, ob sie ihre Doktorarbeit zu Ende schreiben soll. Ein Jahr Forschung hat sie schon investiert. Thema: DDRKomponisten. Antjes Problem: Sie müsste die Linie des DDR-Kulturbetriebs einhalten und die Komponisten zu Künstlern im Dienste des Arbeiter- und Bauern-Staates stilisieren. Doch das fühlt sich falsch an. Sie bricht ab und lernt stattdessen Schauspielerei.
Manchmal ist sie wütend über sich und ihr Anecken. Sie will auch Erfolge feiern wie die Regisseure, die es gelernt haben, sich an den Zeitgeist anzupassen. Wenn die Freundin ihr dann Mut machen will, zählt sie auf, was Antje schon alles erreicht hat: 22 inszenierte Stücke, als Dramaturgin arbeitet sie mit den besten Opern- und Theaterregisseuren Deutschlands zusammen, Anstellungen an der Staatsoper in Stuttgart, am Staatstheater in Kassel und zuletzt an der Komischen Oper in Berlin. Doch all das zählt nicht, denn immer ist da noch etwas, was Antje unbedingt will, das sie den Applaus, den sie gerade bekommen hat, vergessen lässt.
Unbedingt will Antje eine richtige Professorin werden. Nicht nur Dozentin. Sie bewirbt sich. Immer kommt sie in die letzten Runden und scheitert dort. Diesmal ist es Hamburg, sie wird eingeladen, hält einen Vortrag, die Auswahl-Jury ist begeistert, die Sache scheint geritzt. Doch dann kommt die entscheidende Frage: Ob sie bereit sei, 30 Stunden in der Woche an der Hochschule zu arbeiten. Eigentlich nicht, sagt sie, sie würde gerne Seminare geben, aber auch noch anderes machen. Das hat dann natürlich nicht geklappt.
Irgendwann zwischen Inszenierungen und Lehraufträgen, zwischen Karriere und Zweifel fährt Antje ein Auto zu Schrott, betrunken. Mit Antje war immer gut trinken. Doch eine Alkoholsucht? Nein, sagt sie, wenn ihre Freundin sie anspricht, da ist nichts, kein Problem. Doch jahrelang läuft beides: Trinken und Karriere. Der Richter verurteilt sie zu einer Entziehungskur. Das wirkt. Sie macht eine Therapie mit allem Drum und Dran, bis sie für immer trocken ist.
Unbedingt will Antje ein Kind. Doch mit den Männern ist es so eine Sache. Die, die ihr hinterherlaufen, die sich verlieben, die will sie nicht oder nicht unbedingt genug. Kompromisse eingehen, das kann sie nicht. Sie verliebt sich in jene, die sie nicht haben kann: unerreichbar, weil schwul oder verheiratet. Sie wird schwanger, und verliert das Kind. Wird wieder schwanger und verliert es wieder. Dann mit 51 wird sie endlich Mutter und mit ihrer ganzen Intensität kümmert sie sich nun um ihre Tochter. Die pure Freude. Sie spielt, malt, liest vor, musiziert, ist mit ihrem Herzen dabei.
Langsam, langsam rundet sich ihr Leben, da wird Antje krank, der Lungenkrebs drängt sich in ihren Körper. Dabei wollte sie 85 werden. Dabei spricht sie zu ihrer Freundin von dem kleinen Tumor, den sie bestimmt bald bekämpft haben wird. Sterben? Sie doch nicht. Unbedingt kämpfen und unbedingt leben - schließlich ist sie jetzt Mutter. Unbedingt möchte sie noch nach Brasilien, zusammen mit ihrer Tochter und ihrer Schwester, das wird sie gesund machen.
Nichts hilft, der Krebs ist in ihrem ganzen Körper. Vielleicht hat sie zu sehr gestrahlt und zu viel gegeben. Sie bleibt besiegt zurück. Zu ihrem Tod bekunden alle ihre Trauer, die Regisseure, Sänger und Schauspielschüler, die sich von ihr haben begeistern lassen. Zur Beerdigung spricht ihr Vater von ihrem reichen Leben und von einer Antje, die es sich nicht leicht gemacht hat. Karl Grünberg