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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Nachruf auf Lothar Schmidt (* am 6. Februar 1921)

„Ich griff zur Flasche und schenkte mir wieder ein. Schon jetzt war mir klar, dass ich völlig betrunken war, und dass ich nicht mehr weitertrinken durfte. Dennoch blieb der Hang weiterzutrinken stärker. Das farbige Gespinst in meinem Hirn verlockte mich, die nie betretenen dunklen Dickichte in meinem Innern reizten meinen Fuß; ferne rief leise nach mir eine Stimme, ich wusste nicht, was, jedenfalls Lockung.“ Hans Fallada erlag der Lockung, wieder und wieder, und schrieb darüber ein Buch, im Gefängnis, drei Jahre vor seinem Tod: „Der Trinker“. Einer, der es nicht geschafft hat. Einer von zweien scheitert am Entzug. Oft genug, weil es an fortwährendem Beistand mangelt.
„Während der letzten Semester meines Medizinstudiums“, erinnert sich Lothar Schmidt im Vorwort zu seinem Ratgeberbuch „Fahrschule des Lebens“, „famulierte ich in der Berliner Charité und kam in Kontakt mit einem sehr fähigen Arzt, der alkoholkrank war und deshalb entlassen wurde. Er galt als hoffnungsloser therapieresistenter Fall. 13 Jahre später traf ich ihn gesund aussehend. Er berichtete mir, dass er seine Genesung den Anonymen Alkoholikern verdanke, und lud mich ein, am nächsten Gruppengespräch teilzunehmen. Es war 1963, unmittelbar nach Gründung der ersten AA-Gruppe in Berlin.“
Lothar Schmidt nahm die Einladung nicht ohne Hemmung an, denn Trinker galten seinerzeit selbst bei vielen Ärzten als willensschwache, wenn nicht gar kriminelle Charaktere. „Hoffentlich tun die mir nichts. Alles Alkoholiker! Man kann ja nie wissen Soll ich die Brieftasche einstecken oder nicht?“
Er traf dort Menschen, die so offen und ehrlich über sich und ihre Probleme sprachen, wie er es noch nie erlebt hatte. Keine Lügen, kein falscher Stolz, keine geheuchelten Vorsätze, mit denen sich Trinker so oft zu behelfen suchen: „Ich werde von nun an sehr mäßig trinken, vielleicht nur eine halbe Flasche pro Tag oder gar nur ein Drittel. Mit einem Drittel würde ich schon auskommen. Jetzt würde mich schon ein einziger kleiner Schnaps glücklich machen “ Unhaltbare Versprechen, unweigerlich folgt der Absturz, immer wieder. Was hätte Fallada helfen können, aus dem Teufelskreis zu entkommen? Ehrlichkeit. Der Mut zur Kapitulation: Mein Name ist Hans Fallada. Ich bin ein berühmter Schriftsteller. Und ich bin Alkoholiker.
Alkoholsucht ist eine Krankheit, stellte das Bundessozialgericht 1968 fest, sie muss als solche behandelt werden. Alkoholkranke brauchen Hilfe und keine Strafe. Seit diesem Urteil hat sich vieles gebessert, aber das Problem ist geblieben. 90 Prozent der Erwachsenen in Deutschland konsumieren Alkohol, etwa acht Millionen trinken riskant, annähernd zwei Millionen sind süchtig.
Wie erkenne ich die Gefahr? „Wenn Sie merken“, mahnte Lothar Schmidt, „Sie trinken der Wirkung wegen, dann passen Sie auf!“ Auf einen vermeintlichen Genusstrinker kommt ein Kummertrinker. „Es ist ein Brauch von alters her“, dichtete Wilhelm Busch, „wer Sorgen hat, hat auch Likör.“ Und noch mehr Sorgen.
Wer zu viel trinkt, soll damit aufhören. Wer nicht aufhören kann, ist süchtig. Wer süchtig ist, hat die Kontrolle über sein Leben verloren. „Erst wenn der Betroffene sich eingesteht, dass er wirklich ein Problem hat, kann eine Therapie ansetzen.“ Der Suff ist ein Elend, immer, in reichen wie in armen Häusern, aber viel zu oft macht der Kranke sich über Jahre etwas vor, und die Verwandten und Freunde unterstützen ihn, weil sie ihn nicht abstürzen sehen wollen. „Es ist aber genau dieser Tiefpunkt, der die entscheidende Wende bedeuten kann“, erklärte Schmidt und beschrieb den Fall eines Patienten, der sich seines Verfalls erst gewahr wurde, als der Arzt eine Aussprache mit dessen Tochter herbeiführte: „Die Kleine sagte ihm, dass sie gerne einen anderen Papa hätte.“
Als Lothar Schmidt im Jüdischen Krankenhaus anfing, sich um Alkoholkranke zu kümmern, lag die Rückfallquote bei fast 100 Prozent. Betrunkene „wurden einmal durch die kalte Badewanne gezogen“, ausgenüchtert, nach Hause geschickt und ein paar Tage später wieder willkommen geheißen. Er ging zum Senator für Gesundheit und gab zu Protokoll: „Was ich mache, ist völlig nutzlos. Ich mache sie nur fit fürs Weitertrinken.“ „Das weiß ich“, entgegnete der Senator, setzte sich für eine bessere Finanzierung ein und sorgte dafür, dass im Krankenhaus eigene Betten für Alkoholiker bereitgestellt wurden. „Es waren 40 zu Beginn, aber im Schnitt betreute ich ständig 115 Patienten.“ Über die Jahre hinweg hat Lothar Schmidt in verschiedenen Einrichtungen nach eigener Einschätzung 300 000 Alkoholkranke behandelt. Diese Arbeit habe es ihm leicht gemacht, selbst abstinent zu leben, gestand er einem Reporter. Auf die Nachfrage, ob er jemals betrunken war, gab er zur Antwort: „Einmal, das war 1943.“
Lothar Schmidts Vater war ein sehr gläubiger Mann, seine Mutter eine sehr sangesfreudige Frau. Von ihr, der ausgebildeten Konzertsängerin, hatte er die Stimme geerbt, von seinem Vater den unbeirrbaren Glauben, der ihn so selbstsicher auftreten ließ. Als der kleine Lothar bei einem Vorsingen für die Aufnahme in einen berühmten Knabenchor abgewiesen wurde, stellte er sich erneut in der Schlange an, sang noch einmal und wurde genommen.
„Der Leib ist ein Tempel des Heiligen Geistes“, an dieses Bibelwort hielt er sich. Er boxte, spielte Eishockey und überstand dank seiner Zähigkeit selbst den Kriegseinsatz als Sanitäter an der Eismeerküste. Er kam zurück nach Berlin, begann das Medizinstudium, traf Traudel, sang sich in ihr Herz und das der Schwiegermutter, denn der Zufall wollte es, dass er beim Vorstellungsbesuch Noten dabeihatte und auch ein Klavier zur Hand war.
Traudel und ihn einte der Glaube und die Unbekümmertheit, im Leben all das erreichen zu können, was sie sich vornahmen. Sie packten ihren VW-Käfer voll mit Lebensmitteln, durchquerten schon 1955 Italien und in den folgenden Jahrzehnten fast die ganze Welt. Es musste immer weit weg sein, weil sie im Urlaub nicht zurückgeholt werden wollten. Von Zeit zu Zeit war dieser Egoismus nötig, um wieder Kraft zu gewinnen.
„Man muss sich selbst wertschätzen, wenn man andere Menschen wertschätzen will!“ Das war beider Credo, auch wenn sie sich anfangs etwas übergangen fühlte durch seinen unbedingten Einsatz. „Du liebst ja die Alkoholiker mehr als mich!“, schimpfte sie, weil er geradezu süchtig nach der therapeutischen Arbeit wurde. Aber sie begann seinen Enthusiasmus zu teilen, als Medizinerin wie als Mensch, je häufiger sie selbst mit Alkoholkranken in Kontakt kam.
„Meine Patienten sind meine Lehrbücher“, bekannte Schmidt, und er hatte viele Patienten, und viele davon begrüßte er als Gäste in seinem Haus. Der Tag reichte nicht für die Arbeit, es musste die Nacht dazugenommen werden. Er mobilisierte alle Kräfte, als Klinikarzt, als Vortragender, als Mensch - denn dass er und seine Mitarbeiter im Laufe der Jahre so viele zur Abkehr von der Sucht bewegen konnten, gelang nur, weil ein jeder, von der Küchenhilfe bis zum Assistenzarzt, angewiesen wurde, in dem Kranken eine Persönlichkeit und nicht nur eine Akte zu sehen. Die Frage, die ihm selbst einst von dem Psychiater und Suchtexperten Max Glatt gestellt worden war, stellte er jedem seiner Helfer und seiner Studenten: „Kannst du Alkoholiker liebhaben? Wenn ja, dann kannst du sie behandeln. Wenn nicht, dann lass die Finger davon.“
So viele Aufgaben und Ehrenämter wurden ihm angetragen, so viele Auszeichnungen und Orden, auf die er selbst keinen sonderlichen Wert legte. Aber was ihn immer wieder berührte: Wenn bei einer Veranstaltung jemand freudig auf ihn zukam und sagte: „Damals hast du genau das Richtige zu mir gesagt. Seitdem bin ich trocken!“
So wurden aus Trinkern Patienten und aus Patienten nicht selten Freunde, die ihm lebenslang die Treue hielten. Denn sie alle wussten, selbst wenn es Rückfälle gab, würde er sie nie als Versager abstempeln. Sein Wort galt: „Du kannst wiederkommen.“ Für eine Krankheit muss sich niemand schämen, niemals. „Bin ich liebenswert, trotz meiner Schwäche?“ Auf diese zermürbende Frage, die jeden Süchtigen lebenslang umtreibt, gab er immer nur eine Antwort, die einzig richtige: „Ja! Du bist liebenswert.“ Gregor Eisenhauer