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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Worauf es ankommt: Anstand, Pflicht, Sauberkeit. Und auf die Liebe

Nachruf auf Edeltraud Stöckel (Geb. 1920)
Zehn Ausreiseanträge hatte Edeltraud Stöckels Sohn Hans-Jürgen bereits gestellt, als er sich im Jahr 1978 mit seiner Frau und den zwei Kindern auf den Alexanderplatz begab und ein Spruchband hochhielt: „Wir sind nur vier und wollen rüber, laßt uns gehn, wir komm’ nie wieder!“ Es dauerte nur wenige Minuten, bis sie abgeführt wurden. Seine Frau und er kamen ins Gefängnis, die Kinder ins Heim. Nach acht Monaten wurden sie von der Bundesrepublik freigekauft. Edeltraud, die schon im Westen war, freute sich, dass nun auch ihr älterer Sohn in ihrer Nähe war. Aber Hans-Jürgen wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben. Weshalb, hat sie nie verstanden. Für ihren Grabstein wünschte sie sich die Inschrift „Warum“.

Mit ihren Eltern und den neun Geschwistern wuchs Edeltraud in einem Dorf bei Perleberg im Nordosten von Brandenburg auf. Sie liebte den Trubel der Großfamilie und die Nähe ihrer Mutter, die ihr beibrachte, worauf es ankam: Anstand, Pflichtbewusstsein, Sauberkeit. Und auf die Liebe. Brachte man sie anderen entgegen, dann würde sich der Rest schon fügen.

Mit Wilhelm Gerdes, dem Vater ihrer Söhne Hans-Jürgen und Dieter, fügte es sich nicht. Der Offizier hatte fortwährend Affären mit anderen Frauen. 1950 reichte sie die Scheidung ein. Nun musste sie allein durchkommen – und ließ sich zur Krankenschwester ausbilden. Seit sie als Jugendliche Nonnen beobachtet hatte, die Krankenschwestern waren, war das ihr Traumberuf. Sie waren ihr so liebevoll, anständig und ordentlich erschienen. Dass sie als Krankenschwester im Schichtdienst arbeiten musste und sich folglich nicht um ihre Kinder kümmern konnte, empfand sie als unabänderliches Schicksal. Hans-Jürgen gab sie zu ihrer Schwester in Ost-Berlin, Dieter zu ihren Eltern.

Gleichzeitig sehnte sie sich nach einem Leben in der Familie. Sie wünschte sich einen Mann, mit dem sie mal Goldene Hochzeit feiern würde, und wollte mit Kindern, Eltern und Geschwistern zusammen sein. Männer aber waren rar nach dem Krieg und sie blieb allein. Die Kinder sah sie nur alle paar Wochen. Und die Großfamilie hatte der Krieg zerstört: Vier Brüder waren gefallen, eine Schwester war durch eine Bombe getötet worden.

Eine Schwester lebte nun in West-Berlin. Weil sie so sehr von dem Leben dort schwärmte, zog es auch Edeltraud dorthin. 1956 ließ sie sich von Perleberg an die Ost-Berliner Charité versetzen. Stück für Stück brachte sie ihre Sachen mit der S-Bahn in den Westen. Nach drei Monaten blieb sie dort.

Wenige Tage vor dem Mauerbau bekam Edeltraud, völlig unerwartet, Besuch von ihrem Sohn Dieter, der West-Berlin nicht mehr verließ. Hans-Jürgen, der ältere, hingegen bestand darauf, in Ost-Berlin zu bleiben. Dass sie kein Machtwort gesprochen hatte, um ihn zu sich zu holen, ärgerte ihn später. Auch warf er ihr vor, ihn als Kind weggegeben zu haben.

Nun teilte sie die Wohnung mit Dieter und Eugen Stöckel, ihrem neuen Freund. Edeltraud, die oft Edel genannt wurde, gefiel, dass er so ordentlich rasiert und parfümiert war, einen feinen Anzug trug und sie hofierte. Der Rest, so hoffte sie, würde sich schon fügen. Doch war sein cholerisches Gemüt durch ihre Liebe nicht zu besänftigen. Er beschimpfte sie, wenn es Streit gab, schlug sie zuweilen und legte sich auch mit Dieter an. Aber es gab Lichtblicke, gemeinsame Ausflüge etwa oder das Frühstück, das er an guten Tagen machte. Und als er lungenkrank wurde, heiratete sie ihn und blieb, bis er starb.

Es verbitterte sie, dass ihr nie ein Mann mit dem „nötigen Anstand“ begegnet war. Zum Glück gab es Dieter, der ihr Gesellschaft leistete. Mit ihm ging sie spazieren, ins Theater und auf Reisen. In den letzten sechs Jahren, als sie Pflege brauchte, lebten sie gemeinsam in seiner Wohnung.

„Zieht mir bitte was Warmes an. Einen weißen Pullover.“ Das war ihr letzter Wille. In der Bestattungshalle ließ Dieter noch einmal den Sarg öffnen. Er wollte die Decke etwas höher ziehen, damit ihr auch wirklich nicht kalt würde. Candida Splett