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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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„Jazz? Da wirste arm“, sagt er, und: „Es muss ja Geld ins Haus“

Nachruf auf Helmut Runge (Geb. 1937)
Ohne Armstrong hätte es Herb nie gegeben. Er wäre Helmut geblieben, Helmut Runge, Elektriker aus dem Wedding, der in einer zerstörten Stadt sein Glück sucht. Er wäre wohl auch nie nach Amerika gekommen, hätte nicht die Luft am Bosporus geatmet, nie im Rampenlicht gestanden. Aber es kam nun mal ganz anders, und wie bei Louis Armstrong war der Zufall schuld, dass Helmut eines Tages zur Trompete griff.
Amerikanische Soldaten drücken dem vaterlosen Jungen Jazz-Platten in die Hand und der bekommt die Trompetensoli nicht mehr raus aus seinem Kopf. Als er die Lehre zum Elektriker abschließt, kauft er sich eine Trompete, schreibt sich am Stadt-Konservatorium ein und übt, von morgens bis abends, monatelang. Sein erstes Konzert spielt er Mitte der Fünfziger gegen Freibier, sein letztes nur noch für sich selbst, 60 Jahre später.
Es ist der Sommer 2016. Herb Runge steht auf seinem Balkon in einer Zehlendorfer Seitenstraße, er ist dünn geworden. Er setzt die Trompete an und bläst die Backen auf. Die Tonleiter hoch; seine Finger drücken die Ventile fast so schnell wie früher. Dann hält er das B, lässt den Ton einen Moment schwingen, zittert ein wenig, ehe er absetzt und seine Trompete grüßend in die Luft hält. Früher hätte ihm in diesem Augenblick das Publikum applaudiert. Gejubelt hätte es. Heute beobachtet das nur noch ein enger Freund. Runge lacht noch einmal, dann senkt er das Instrument. Es reicht.
Die Trompete war sein Eintritt in die andere Welt. Anfang der Sechziger beginnt er in den Clubs der Hauptstadt zu spielen. Er nennt sich Herb, nach Herb Alberts, dem amerikanischen Trompetenstar. Und er hat Talent, gründet eine Studentenband, gewinnt Jazzpreise, spielt fürs Rias-Tanzorchester.
1964 heuert Runge auf einem Kreuzfahrtschiff in Bremen an. Einen Monat lang fährt er in Richtung Amerika und wieder zurück. Er spielt Trompete für die Reichen, er spielt Trompete, um die Welt zu sehen. Ein Monat auf See, vier Monate zu Hause, dann wieder aufs Schiff und weiter. Aus der Ferne schreibt er Postkarten an seine Mutter. „Mudda“ nennt er sie. Er schwärmt von der Weite, vom Wetter und von den Frauen. Auf einer Fahrt verliebt er sich in eine Amerikanerin, besucht sie in New York, kommt zurück, trennt sich von ihr, zieht wieder los.
Längst spielt er nicht mehr nur Jazz. Swing ja, und „Tanzmusik“. „Jazz? Da wirste arm“, sagt er, und: „Es muss ja Geld ins Haus.“ Mitte der Siebziger heuert ihn die ZDF-Hitparade an. Die Gagen sind enorm. Er tingelt mit Dieter Thomas Heck und Jürgen Markus durch die Bundesrepublik, spielt in der Schweiz und in Österreich, verliebt sich in die Sängerin Steffi und kehrt erfolgstrunken zurück nach Berlin. Jetzt ist er wer, einer, der sogar Geld hat.
Er kauft ein kleines Studio, sucht sich Musiker zusammen, nimmt seine ersten Platten auf. Es ist eine wilde Zeit: In seinem Studio feiert er Partys, auf der Bühne lässt er sich feiern. Er spielt auf sämtlichen Bällen, für die er ein Engagement bekommt, auf Pressebällen, Juristenbällen, Tuntenbällen. Auch für Tankstelleneröffnungen lässt sich Herb Runge buchen, nur gut bezahlt muss es sein. Von den Gagen gönnt er sich das gute Leben. Er bekommt einen Wohlstandsbauch, trinkt viel, verliebt sich neu. In seinem Telefonbuch sammelt er Musiker: Name, Instrument, Telefonnummer. Herb Runge muss sich nicht um Freunde kümmern, die Menschen kommen auf ihn zu. Er nennt sich jetzt „Berliner Urgestein“.
20 Jahre später, 2007, veranstaltet Herb Runge sein letztes großes Konzert: Seit 50 Jahren ist er nun als Trompeter aufgetreten, es ist sein Bühnenjubiläum - und ein wenig auch eine Erinnerung an die ganze alte, wilde Zeit. Anfang der Neunziger hat er es sich gemütlich gemacht: Er war Chef der BSR-Bigband geworden und mit dem sicheren Gehalt nach Zehlendorf gezogen. Mit seinem Caddy fuhr er täglich in die Stadt, abends setzte er sich in die Kneipe am Bahnhof und trank sein Bier. Auf seinem Auto stand: „Herb Runge. Trompeter“. Ende der Neunziger beschloss der Senat: Eine Stadtreinigung braucht kein Orchester, das sparen wir ein. Die Musiker gingen zurück in die Verwaltung, Herb Runge war wieder auf dem freien Markt. Er spielte noch hier und da kleine Konzerte und schrieb ein Stück für „Hertha 03 Zehlendorf“. Aber die große Zeit war vorbei.
Fürs Jubiläum bucht Herb Runge das „Joes“ am Kudamm. An einen alten Bekannten vom Radio schreibt er: „Es spielen 30 der besten Musiker dieser Stadt für mich - umsonst.“ Vielleicht will er mit diesem Auftritt noch einmal zurück auf die große Bühne, vielleicht möchte er bloß eine letzte große Show. Obwohl er das Geld gebrauchen könnte, verlangt Runge kaum Eintritt. Wie früher dirigiert er die Band, singt ein wenig, dann stellt er sich auf die Bühne und spielt sein Solo. Als das Konzert vorbei ist, gibt es höflichen Applaus. Runge bedankt sich bei den Musikern, dann sagt er zum Publikum: „Es war mir eine Ehre, dass Sie hier waren. Vielleicht sehen wir uns im neuen Jahr.“ Paul Hildebrandt