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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Er kannte ihre kleinste Pfeife, er registrierte jede nervöse Verstimmung

Nachruf auf Hans Eichberg (Geb. 1930)
Die Maxime seines Lebens lautete: Meide Orte, die keine Orgel haben! Hans Eichberg besaß zwei Orgeln, eine im Kino Babylon, die andere im Wohnzimmer. Am 14. Januar 2015 notierte er in sein Tagebuch: „Anna Vavilkina spielt ein Jahr an der Kino-Orgel.“ Am 14. März stand da: „Mein 85. Geburtstag, Timo + Anna kommen, Anna spielt viel auf meiner Orgel.“
Anna, immer wieder Anna. Sie ist Moskauerin, am Moskauer Konservatorium hatte sie einst eine kurze Affäre mit einem Cembalo, aber dann kam schon die Orgel. Und da es in Deutschland viel mehr Orgeln gibt als in Russland, war sie bald hier. Als Hans Eichberg ihr 2012 zum ersten Mal begegnete, spielte die junge Organistin für mehrere Landgemeinden vor Köln die sonntägliche Begleitmusik zum Kirchgang. Aber jetzt hatte sie Urlaub. Andere Menschen besuchen fremde Städte, wenn sie frei haben: Anna Vavilkina besuchte fremde Orgeln.
Eine fremde Frau näherte sich Hans Eichbergs Orgel. Er sah es mit freundlicher Skepsis. Organisten kommen, weltberühmte darunter, Organisten gehen. So war das immer. Aber diese hier, das konnte er nicht wissen, würde bleiben.
Jawohl, es war seine Orgel. Sie steht schräg rechts hinter der großen Kino-Leinwand. Er kannte ihre kleinste Pfeife, er registrierte ihr minimalstes Unwohlsein, jede nervöse Verstimmung. 913 Orgelpfeifen! Die größte ist 3,10 m hoch, die kleinste 10 Millimeter. Außerdem kann sie rauschen wie das Meer, stampfen wie ein Schnellzug, regnen, donnern, zwitschern. Für die Meeresbrandung rutscht Kies auf einem schwankenden Blech, vier zusammenschlagende Holztöpfe ergeben galoppierende Cowboys. Alles elektro- pneumatisch-mechanisch.
Hans Eichberg hat die Orgel fast ein Leben lang begleitet. Sie teilen auch fast dasselbe Baujahr: Die Orgel entstand 1929, Hans Eichberg ein knappes Jahr später. Sollte man sagen, sie waren Geschwister?
Die größte Kinoorgel von Berlin, für den Stummfilm gemacht, ein Jahr vor dem Siegeszug des Tonfilms. Das ist späte Größe. Das ist eindeutig zu späte Größe. Es handelte sich demnach um eine tragische Existenz. Aber wer war schon etwas anderes 1945 in Berlin, als der Krieg vorbei war? Der Orgel war fast nichts geschehen, dem Fünfzehnjährigen auch nicht. Im Orchestergraben des Babylon saß ein alter Mann und spielte, der Junge sah ihm zu. In solchen Augenblicken begriff er, dass Friede war.
Er kletterte durch kaputte Kirchen, um deren Orgeln zu besichtigen. Hans Eichberg trug lebenslang einen kleinen Huckel auf der Stirn, viele bemerkten ihn, aber kaum einer wusste, woher er kam: Eine ziemlich große Pfeife war ihm damals direkt auf die Stirn gefallen. Schwächere Charaktere hätten sich nun abgewandt.
Der Orgelversehrte wohnte in der Binzer Straße, Pankow. Das politische System, das ihn dazu veranlasst hätte, die Binzer Straße zu verlassen, war noch nicht erfunden. Dass der Westen bereits in den Sechzigern Waschvollautomaten hatte, sprach natürlich für den Westen. Aber wegen eines Waschvollautomaten die Binzer Straße zu verlassen, sprach in den Augen des Hans Eichberg gegen seine Intelligenz. War es nicht naheliegender, sich seinen eigenen Vollautomaten zu bauen, den ersten und lange Zeit einzigen Waschvollautomaten der DDR, Handarbeit in allen Teilen? Heute steht er im deutschen Waschmaschinenmuseum im Münsterland. Und warum nicht Kohleöfen in Elektroöfen umrüsten?
In den Augen der Welt und in denen seiner Mutter war Hans Eichberg Tischler. Und was ist die größte Herausforderung eines Tischlers? Ganz sicher der Orgelbau. Also fing er an. Er war zwar schon vorher katholisch, aber die Orgel hat ihn gleich noch einmal bekehrt. Sie zu spielen, lernte er nebenbei, schließlich musste er überprüfen, was er da baute.
Da war die Orgel des Babylon wohl schon verstummt. An einem froststarren Wintertag in den Fünfzigern hatte er sie zuletzt gehört. Hans Eichberg lief mit seiner Verlobten Ruth von der Warschauer Straße bis zum Babylon, sie hörten leise Musik durch die Hintertür, da blieben sie stehen und haben sich lange geküsst.
Niemand kam mehr auf die Idee, den Gleitlagermotor zu ölen, der das Hochdruckgebläse antreibt: Die Motorwicklung brannte durch. Der Spieltisch wurde abgebaut und in den Keller gebracht, dort stand er manchmal unter Wasser. Aber nicht nur die Babyloner Kinoorgel, das ganze Land stand irgendwann unter Wasser.
Als die Mauer fiel, glaubten viele an die Wiederauferstehung zu Lebzeiten, Hans Eichberg glaubte vor allem an die Wiederauferstehung der babylonischen Orgel. Er übernahm die Reparatur des Spieltischs. Er sieht aus wie ein aus der Art geschlagenes Klavier: Er hat zwei Manuale, eine Pedalklaviatur, 100 Register, unfassbar viele Hebel und Tasten. Hans Eichbergs Tagebuch vermerkt für den 2. März 1994: „Den völlig verkommenen und vermisteten Spieltisch abgeholt.“ Nach über eintausend Arbeitsstunden war er im Oktober 1994 fertig; aber die Orgel noch lange nicht. Als Unsummen ausgegeben waren und die Orgel 2001 eingeweiht wurde, war Hans Eichberg nicht eingeladen. Dafür ließ sich der Gesamtrekonstruktionsverantwortliche am Spieltisch filmen und erklärte, das habe er alles allein gemacht. Eine kleine Bitterkeit kroch Hans Eichberg ins Herz. Er umging das Kino fortan großräumig.
Im Mai 2005 spielte der Stummfilmpianist Willy Sommerfeld im Babylon, er war damals 101 Jahre alt. Eichberg zögerte. Sollte er oder sollte er nicht? Hatte er nicht ein Recht, gar die Pflicht, seinen 1000- Arbeitsstunden- Spieltisch zu besuchen? Zu seiner größten Enttäuschung spielte Sommerfeld gar nicht auf der Orgel. Er sei Pianist, kein Organist, erklärte der 101-Jährige dem 75-Jährigen. Außerdem sei das Ding kaputt. Schon wieder? Eichberg merkte auf. 50 000 Euro sollte die Reparatur kosten.
In jenem Mai vor zwölf Jahren begegnete er dem nagelneuen Leiter des Babylon zum ersten Mal. Timothy Grossmann gab ihm Einblick in seine finanziellen Spielräume. Es gab keine. Da hatte Eichberg eine Idee: Wie wäre es, wenn er die Orgel reparierte und Grossmann gäbe ihm kein Geld dafür? Niemand kann sagen, dass dieses Geschäftsmodell im Trend der Zeit lag. Schließlich war der Sozialismus unlängst untergegangen. Der unentfremdete Mensch arbeite nicht um des Profites willen, sondern aus Leidenschaft, hatte Marx geglaubt. Was für ein Irrtum! Oder doch nicht? Mit 75 wurde der Katholik Hans Eichberg praktizierender Kommunist. Er fing sofort an. Und wohnte fortan gewissermaßen in der Orgel hinter der großen Leinwand. Der Orgelraum ist so hoch wie die größte Pfeife, über drei Meter.
Und dann kam Anna. So wie sie könnte er nie Bachs h-moll-Messe spielen und auch nicht „Meine Oma fährt im Hühnerstall Motorrad“. „Was machst Du mit dem Knie, lieber Hans / mit dem Knie, lieber Hans / beim Tanz?“ wollte er immer wieder hören.
Anna und er liebten dasselbe Instrument. Was für ein hauchzartes und doch taustarkes Band zwischen zwei Menschen! Dann starb Hans Eichbergs Frau Ruth, und manchmal wusste er nicht, ob er das überleben sollte, aber da waren immer noch Anna und die Orgel. An jedem Sonnabend um Mitternacht begleitete die Moskauerin einen anderen Stummfilm, genauso wie noch heute, und Eichberg war fast immer da. Anna Vavilkina kroch mit ihm tief in die Orgel hinein. Zwei Perfektionisten, die das Wort „Kompromiss“ nie verstehen würden. 25. April 2015: „Effekt Brandung verbessert, mit Anna.“ 5. Mai 2015: „zwei Heuler in der Trompete 8 beseitigt, mit Anna.“ 2. Juni: „Pedalregister Türkisches Becken repariert.“
Schließlich befand sich die Orgel in einem viel besseren Zustand als im Jahr ihrer Erbauung. Das machte ihn sehr stolz. Und Hans Eichberg?
Es war ein Schlaganfall. Anna Vavilkina und der Kinodirektor Timothy Grossmann hätten nie geglaubt, dass Eichberg genauso alt ist wie andere 86- Jährige: „Hans, du verschmitzter Schwejk, du genialer Ingenieur und Orgelbauer und Kunsttischler in eigenem Auftrag, wer wenn nicht du kann 100 Jahre leben und arbeiten und leben!“
„Pedalregister Türkisches Becken repariert.“ So würde auch sein Körper es halten. Hat die Physis nicht eine Verpflichtung gegenüber dem Geist?
Und jetzt steht Anna Vavilkina allein in der Orgel zwischen 913 Pfeifen und 34 mechanisch-elektro-pneumatischen Spezialeffekten. Der Motor müsste bald wieder geölt werden. Es gibt viele falsche Öle und ein richtiges, hat der Herr der Orgel erklärt. Aber welches ist das? „Ich dachte, ich hätte viel mehr Zeit, das alles zu lernen!“, sagt die Zurückgelassene. Kerstin Decker