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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Gibt es einen, der ihr gefällt, fährt sie mit ihm baden

Nachruf auf Gerlind Erna Erlitz (Geb. 1930)
Es gibt ein Foto, kurz nach dem Krieg aufgenommen, da steht Gerlind mitten in Kreuzberg auf der Straße, im Hintergrund kaputte Häuser, Trümmerhaufen, alles grau in grau. Doch sie sticht hervor, hat ein weißes Kleid an, ein schwarzer Gürtel fixiert den Stoff an ihrem klapperdünnen Körper. Kurz zuvor war sie im Krankenhaus wegen Unterernährung.
Doch es fiel ihr nie ein, sich zu beschweren. Viel besser als andere hat sie den Krieg überlebt. Muttern lebt ja noch, der Opa und die Wohnung in der Nostizstraße waren auch noch heile. Vatern war ja schon viel früher weg gewesen, noch vor ihrer Geburt. Nein, Gerlind war nicht arm dran, im Gegenteil, die Welt und ihre Abenteuer warteten an der nächsten Straßenecke. So schaut sie in die Kamera, frech und herausfordernd.
Stundenlang marschiert sie durch die zerstörte Stadt, ihrem Traum entgegen, zu den Kursen in der Handelsschule. Buchhalterin will sie werden. In einem Büro sitzen. Tabellen, Linien, ordentliche Schrift, das mag sie. In ihren Haushaltsbüchern notiert sie jede Ausgabe: „Tasse Kaffee: 20 Pfennig. Eine Eiswaffel: 10 Pfennig. Ein Kleid: 17,50 Mark. Eine Bluse: 10,75 Mark.“ Sie lernt Steno, Schreibmaschine, Buchführung, Abrechnung und Englisch.
Und sie schreibt Briefe an Verwandte und an Freundinnen im feinsten Sütterlin, die Themen: „Wer wen besucht hat“, „Wie es diesen und jenen geht“, „Was man im Kino gesehen und sonst so erlebt hat“. Und an Verehrer: An Heinz Graffunder zum Beispiel, der später der Architekt des Palastes der Republik wird. Sie verabreden sich zu einem samstäglichen Ausflug an den Treptower Park, „mit Literatur, Badesachen und Spaß“. Zu mehr kommt es nicht, Graffunder ist zu beschäftigt und auch sonst ganz und gar pragmatisch, wenn nicht fad veranlagt. Sie sucht weiter. Gibt es einen, der ihr gefällt, fährt sie mit ihm baden, damit sie sehen kann, ob er auch hält, was er verspricht.
Dann findet sie einen, den mag sie sehr, mehr als alle anderen. Hans, gerade aus der Gefangenschaft zurückgekehrt, ein nachdenklicher, zurückgezogener Mensch. Ganz anders als sie, die energisch, laut und kontaktfreudig ist. Sie heirateten und Gerlind bringt eine Tochter und einen Sohn auf die Welt.
Ob er wirklich der Richtige für sie ist? Ja und Nein. Ja, weil sie bestimmen kann, wo es lang geht und natürlich nach acht Wochen Babypause wieder in ihr geliebtes Büro am Institut für angewandte Geodäsie zurückkehrt. Sie ist eine Art Chefsekretärin, verantwortlich für alles, von der Lohnbuchhaltung bis zu der Einstellung von Putzkräften. Mittags geht sie mit den Chefs essen. Nein, weil er nicht gern feiert, nicht gern verreist und immer eifersüchtig ist auf ihre Kontakte zu den Freunden und zum Leben überhaupt. Und dann ist er auch noch zu streng mit den Kindern, verteilt auch mal Ohrfeigen, schimpft mit ihrer Mutter. Als Gerlind all das mitbekommt, unterbindet sie es. Was erlaubt er sich?
Hans stirbt 1988, natürlich ist sie traurig, aber es ist auch ihre Chance für einen Neuanfang. Frisch verwitwet und frisch in Rente legt Gerlind noch einmal los. Begibt sich auf Kreuzfahrt, zu ihrer Tante nach San Francisco, auf eine Amerika-Rundreise, mit dem Enkel ans Tote Meer, nach Jordanien. Am Flughafen, auf Bahnhöfen, auf orientalischen Märkten oder mitten auf dem Land, Gerlind findet sich zurecht, zur Not fragt sie sich durch. Auch in Deutschland ist sie unterwegs, fährt mit ihrem geliebten Auto die weitverzweigte Familie ab, ruft an, schreibt Briefe, so wie sie es früher gemacht hat und mit derselben Energie, mit der sie alles angeht.
Ihren Tod geht sie auch energisch an. Fast blind, fast taub, halbseitig gelähmt zieht sie ins Pflegeheim. „Das ist kein Leben mehr“, sagt sie und entschließt sich, nichts mehr zu essen. Sie wird dünner und dünner, hat Schmerzen, ihr Magen knurrt, doch ihr Entschluss steht fest.
Als es so weit ist, kommen ihre Kinder und Enkelkinder, setzen sich zu ihr, halten ihre Hand und nehmen Abschied. Karl Grünberg