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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Er war in einem kaputten Körper eingesperrt. Na und?

Nachruf auf Sven Normann (Geb. 1984)
Als das Kind geboren wurde, hielt man es für gesund. Es war der einzige Moment in seinem Leben, da er wie alle war - wenn man von den Klumpfüßen und einer seltsam nach innen gebogenen Stellung der Daumen absah. Das könne man operieren, versprachen die Ärzte im Strausberger Klinikum. Doch schon bald begann sich sein Zustand zu verschlechtern, das Kind musste künstlich beatmet werden.
Sein erstes Lebensjahr verbrachte Sven fast ohne Pause im Krankenhaus. Er konnte nicht trinken und musste durch eine Sonde ernährt werden. Man verlegte ihn ins Klinikum Buch. Aber es wurde nicht besser, nichts wurde besser. Wegen eines Hüftschadens würde er nie laufen lernen, monatelang wurden ihm Streckverbände angelegt, Operation folgte auf Operation. Eine Skoliose, die Verkrümmung der Wirbelsäule, stellte sich ein, dazu kam ein Fieber, das nie richtig wegging.
Der Ursprung der multiplen Krankheit konnte nie richtig diagnostiziert werden. Bis in sein Jugendalter verbrachte Sven mehr als drei Jahre in Krankenhäusern. Und beschloss eines Tages, seinen Leiden nicht mehr Aufmerksamkeit zu schenken als unbedingt notwendig. Er wollte normal leben, so normal wie irgend möglich. So geschah das Wunder: Sven Normann wurde ein heiterer, ja, ein offensiv fröhlicher Mensch, der sich fest vornahm, nie mehr ein Krankenhaus von innen zu sehen. Er lag mehr im Rollstuhl, als er in ihm sitzen konnte, er war in einem kaputten Körper eingesperrt - na und? Er ertrotzte sich jeden Zentimeter Freiraum, er genoss, was zu genießen war. Und er wollte etwas leisten. Geist und Seele waren gesund, dafür war er dankbar.
Für den Literaturzirkel seiner Förderschule hatte er mal ein Herbstgedicht geschrieben, darin die Zeile „Draußen ist es blass“. Die Stelle fand die Lehrerin nicht gut. Draußen ist es kalt oder neblig, aber doch nicht blass! Mit derlei Unverständnis hatte Sven fast so oft zu kämpfen wie mit seinem unzuverlässigen Körper.
Seine Eltern erfüllten ihm jeden Wunsch, und er hatte viele Wünsche. So schoben sie ihn im Rollstuhl auf die Zugspitze; es gibt ein Foto von dieser Expedition, darauf sieht man hinter seinem Rollstuhl vier Menschen, die ihn lachend bergan bugsieren. „Runter geht es einfacher!“, ermunterte Sven die Schiebenden. Es war dieser Humor, der seinen mühsamen Alltag erträglich machte. So konnte er auch über alles reden, über die Krankheit, über den Tod und darüber, ob er nun eher Männer oder Frauen lieben würde, worüber er sich bis zum Schluss unschlüssig blieb. Warum nicht beide?
Im Dokumentarfilm „Die Menschenliebe“ von Maximilian Haslberger, in dem es um die Sexualität Behinderter geht, tritt auch Sven Normann auf. „Ich bin ein offener Mensch und kann über meine Sehnsüchte sprechen.“ Er sagt, dass es Sex für ihn nur gegen Bezahlung gibt. Seinen unschönen Körper könne ja keiner lieben. Die Erfahrungen, die er im Rotlichtmilieu macht, sind keine guten. Ein Callboy etwa, der ihm gab, wofür er bezahlt wurde, weigerte sich, „mit dem Krüppel“ zu sprechen.
Dass bei Sven Nornann die Dinge anders funktionierten als bei anderen, das war er gewohnt. Das Kind, das nie laufen lernte, kroch eben auf allen vieren, wohin es wollte. Es begann auch aufzutreten, zuerst vor der Familie als Biene Maja im gelb-schwarzen Kostüm, später vor größerem Publikum.
Seine Mutter kennt all die Stationen seines Kampfes um Teilhabe am Leben der anderen. Wie er den Abschluss der zehnten Klasse und seine Lehre als Bürofachmann schaffte, obwohl er in seinen langen, schlanken Fingern kaum ein Gefühl hatte und nur schwer einen Stift halten konnte. Er war klug, er hatte Fantasie, und irgendwann kam er auch mit der Computertastatur klar. Doch niemand wollte den Mann im Rollstuhl einstellen. Es blieb nur die Behindertenwerkstatt. Das empfand er als Niederlage. Mit wem sollte er dort reden? Nicht, dass er was gegen geistig Behinderte hatte, aber er langweilte sich doch so schnell, er brauchte die Unterhaltung!
Als er 2008 von Strausberg nach Berlin in eine Behinderten-WG gezogen war, fand er zum RambaZamba-Theater. Das Glück seines Lebens. Zuerst machte er ein Medienpraktikum, vom Theaterspielen war noch keine Rede. Aber von Scheinwerfern und Glanz jeder Art fühlte er sich magisch angezogen. Am liebsten besuchte er die Musicals im „Theater des Westens“. Und Diskotheken mochte er sowieso. Da ließ er sich im Rollstuhl auf die Tanzfläche schieben und schwenkte seine Arme hoch in der Luft zum Rhythmus der Musik.
Auch ins RambaZamba-Theater wollte er Glanz bringen. Sich selbst! Bald bekam der Mann, der getragen werden musste, tragende Rollen, den Prospero im „Sturm“, den Odysseus in „Philoktet“. Berühmte Regisseure wie Dimiter Got- scheff oder Herbert Fritsch sahen ihn und staunten. Etwas Ungewöhnliches, ganz Unmögliches schaffen, trotz allem, davon hatte er geträumt.
In seinem letzten Stück, Becketts „Endspiel“, war er der blinde und gelähmte Hamm. In der Mitte der Bühne lag als einziges Requisit ein großes schwarzes Kissen. Sven Normann, in eng anliegendem schwarzen Kostüm und mit Sonnenbrille lag rücklings darauf und sah aus wie Mick Jagger beim Yoga. Verdammt lässig. „Ich bin dran, jetzt spiele ich.“ Das ist der originale Beckett-Text, aber er klang aus seinem Mund wie ein intimes Bekenntnis. „Kann es überhaupt ein Elend geben, das erhabener ist als meines?“ Als er das sagte, richtete er sich so hoch auf, wie er es überhaupt vermochte. Dann drehte er sich langsam auf den Bauch, und es wirkte, als müsse er die ganze Erdkugel stemmen: „Schluss damit, es wird Zeit, dass es endet. Und doch zögere ich noch, zu enden.“
Der fortgesetzte Ausbruchsversuch eines Gefangengesetzten, das war doch sein Lebensthema, sagt Jacob Höhne, der Regisseur der Inszenierung. Diese verdammte Abhängigkeit, die Unmöglichkeit, frei zu sein, trotz seines übermächtigen Willens! Sven Normann habe mit seinem schwachen Körper die hundert Spielminuten getragen wie eine Schildkröte, langsam aber unbeirrbar in seinen Bewegungen. War es zu hart? Vielleicht, aber er wollte es so. Zu proben, so viel wie möglich, das war seine Heimat. Er konnte, was wenige Schauspieler können: sein Denken im Spiel hörbar machen.
Manchmal kam er morgens zur Probe und war wie gerädert, weil er wieder die ganze Nacht nicht von der Toilette in seiner Pankower Behinderten-WG runtergekommen war. Das war der große Alltagskampf, den dieser stolze Mensch führte: allein zur Toilette zu gelangen und wieder zurück. Und wenn er es nicht geschafft hat, trotzdem auf die Bühne mit seinem Beckett-Text. Was für Fallhöhen, was für Folgerichtigkeiten. In dieser letzten Theaterarbeit verließ er sich nicht allein auf seinen starken Geist, sondern auch auf seinen schwachen Körper. Er war ein schöner Mensch in dieser Rolle.
Im März fuhren sie mit dem „Endspiel“ zum Gastspiel nach Poznan. In der ganzen Stadt waren große Plakate zu sehen, die ihn zeigten. Da war er glücklich. Seinen letzten Geburtstag, es war der 31., feierte er drei Tage lang. Niemand konnte das Leben so lieben wie er, dem es das Leben so schwermachte. Und Becketts „Endspiel“-Text war für ihn wie ein Gebet geworden. Ein Fluchtweg gar? „Ich sollte mich lieber schlafen legen!“, ruft Hamm Clov hinterher, der zu rasenden Beats mit freiem Oberkörper im Kreis um ihn herumläuft.
Am 6. April erschien er wie immer am Morgen im Theater. Im Malsaal saß er vor einer Staffelei mit einem Bild, an dem er schon länger arbeitete. War es fertig? Jedenfalls stellte er den Pinsel langsam zurück ins Glas und schloss die Augen. Es dauerte eine Weile, bis die Anwesenden verstanden, was geschehen war. Der Notarzt, der ihn wiederbeleben wollte, gab schnell auf. Die Organe in Svens Körper waren in sich verwachsen und befanden sich an völlig unmöglichen Stellen. Man konnte ihn nicht einmal intubieren. Wie hat dieser Mensch damit so lange leben können?, fragte der Arzt kopfschüttelnd.
Svens Mutter sagt, er konnte so lange leben, weil er für das Theater gelebt habe. Und am Theater sei er auch gestorben.
Niemand hatte mit diesem plötzlichen Tod gerechnet. Außer ihm selbst vielleicht. Drei Tage zuvor hatte er die Details für seine Beerdigung festgelegt. Das Wichtigste: Es sollte keine traurige Veranstaltung werden. Mehr als 200 Gäste kamen. Der Regisseur glaubt, dass jeder von ihnen der Überzeugung war, sein wohl bester Freund gewesen zu sein. 200 beste Freunde! Kann man es im Leben besser treffen? Gunnar Decker