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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Die latein- amerikanische Literatur las sie nicht in Lateinamerika

Nachruf auf Maria Bamberg (Geb. 1915)
Es ist klein und leicht, das Paket, das der Postbote Maria reicht. Sie legt es vor sich auf den Tisch, öffnet die Schnüre und entnimmt ihm einen Brief ihrer Schwester und einen Flicken Pelz. Das muss ein Stück des alten Persianermantels meiner Mutter sein, denkt sie und betastet das weiche Bündel. Sie fühlt etwas Flaches, Hartes und beginnt zu lesen: „Erkennst du ihn wieder, deinen Stein?“
Sie erkennt ihn wieder, augenblicklich, diesen Stein, den sie im Alter von sieben Jahren am anderen Ende der Welt gefunden hatte. Sie hält ihn in der Hand wie damals, vor bald achtzig Jahren. Ein sorgfältig bearbeiteter Feuerstein, ein indianischer Fellschaber.
„Wenn ich an meine frühe Kindheit zurückdenke, sehe ich zuerst: Raum: Patagonien: das kleine weiße Haus, die fahlgelben Berge und den blauen See, Lago Ghío.“
1923 bestieg Maria mit ihrer Mutter und den beiden Schwestern ein Schiff in Hamburg, fuhr 31 Tage über den Atlantik, acht die patagonische Küste entlang und drei mit einem voll beladenen Auto über Land, „wo es kaum gut gebaute Häuser gab, keine Bäume, kaum gepflasterte Straßen“. Schließlich erreichte sie die Schaffarm, die der Vater verwaltete. Zu Beginn der Reise fror sie und versuchte, vertieft in „Herzblättchens Zeitvertreib“, die wenigen Buchstaben, die sie noch nicht in der Schule gelernt hatte, zu enträtseln. Am Ende der Reise zog sie ihre wollene Jacke aus und konnte lesen. „Die Bücher öffneten mir eine andere Welt, die meine Fantasie belebte und sie wachsen ließ.“ Die patagonische Landschaft war zwar einerseits eine weite, „keine Straße, kein Zaun schränkte den Raum ein, der uns zum Spielen und Erforschen zur Verfügung stand“, andererseits wohnten die nächsten Nachbarn viele Kilometer entfernt. Sie lebte in zwei Welten: „draußen im Freien in der Steinzeit, wo wir Naturforscher spielten; drinnen im Haus in der Kultur.“
In der deutschen Kultur. Die Eltern schickten Maria für das Abitur nach Berlin. Und sie pochten auf preußische Sitten, Hände vor dem Essen waschen, Teller leer essen, Gehorsam. „Unsere Eltern waren bewusste Deutsche. Und sie erzogen ihre Kinder, einschließlich unserer in Chile und Argentinien geborenen Brüder, deutsch, verlangten von uns, nur deutsche Ehepartner zu heiraten, und pflegten nur deutsche Bekanntschaften. Wir durften als Kinder kein Spanisch sprechen, und was es in Argentinien an Kultur gab, wurde einfach übergangen. Und Mädchen heirateten und bekamen Kinder.“
Den Gehorsam gab Maria bald auf. Spanisch lernte sie noch als junge Frau, die lateinamerikanische Literatur aber las sie nicht in Lateinamerika, sondern erst in Berlin, ab 1963, als sie anfing, Bücher zu übersetzen.
Wesentlich verzwickter verhielt es sich mit der Hochzeit und dem Kinderkriegen. Denn trotz ihrer traditionellen Vorstellungen, schienen die Eltern an Marias Eignung auf diesem Gebiet zu zweifeln. An einem Abend vor dem Kamin sagten sie: „Du wirst wohl kaum heiraten, du bist zu theoretisch.“ Theoretisch bedeutete nichts Gutes. Und alles in Maria bäumte sich gegen diesen elterlichen Satz auf: „Ich habe in diesem Leben eigentlich nur einen Entschluss gefasst - einen Entschluss, nicht eine Entscheidung. Entscheidungen sind immer etwas Doppeltes: entweder-oder, und sie treten ständig auf, wir müssen uns ständig zwischen entweder und oder entscheiden. Dagegen der Entschluss: der bedeutet das Ende einer Suche; er ist nicht nur gültig, sondern endgültig, ein Abschluss.“ Und sie erwiderte: „Das werde ich euch zeigen! Ich werde heiraten und vier Kinder kriegen!“ Alles andere, was kam, die Arbeit als Sekretärin und Lehrerin, das Sprachenstudium in Córdoba, die Rückkehr nach Berlin, waren bloße Entscheidungen, die auch hätten anders ausfallen können.
Naturgemäß benötigte sie für ihren Entschluss einen Mann. Nach dem Willen der Eltern, einen deutschen. Maria gehorchte. Und widersetzte sich zugleich auf eine Weise, die zu einem zeitweiligen Bruch führte. Denn der Mann, den sie wählte, war Jude.
Paul Hans Bamberg war 1938 aus Berlin geflohen und studierte Medizin in Argentinien. Sonderlich beeindruckt aber war Maria zunächst nicht von ihm: „Ich fand ihn so streng deutsch.“ Trotzdem erzählte sie ihrer Schwester von der Begegnung, die Schwester schwatzte es weiter, die Mutter war entsetzt und forderte von Maria, niemals einen Juden zu heiraten.
Maria gab nach, vorerst. Schon die Aufgabe ihrer deutschen Staatsbürgerschaft hatte zu Spannungen mit dem Vater geführt. Er hielt die Nazis zwar für „proletenhaft“, ihre Erfolge aber imponierten ihm. „Sie wollten keine Nationalsozialisten sein, aber im Unterbewusstsein wünschten sie doch den Sieg Deutschlands. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges haben sich meine Eltern dagegen gewehrt, als antisemitisch zu gelten.“
Den streng deutschen Medizinstudenten traf sie trotz allem wieder, und einige Spaziergänge später saßen sie in einem Café, „redeten dies und redeten das, und wussten genau, worüber wir eigentlich reden wollten und sollten.“ Bis Paul Hans die entscheidende Frage wagte: „Könnten Sie sich vorstellen, mich zu heiraten?“ Sie wand sich, sie schämte sich. Sollte sie ihm ins Gesicht sagen: „Ich habe meiner Mutter in die Hand versprochen, nie einen Juden zu heiraten?“ Sie wich aus, ein Mal, zwei Mal, als er ein drittes Mal fragte, zögerte sie nicht mehr. Ihre Mutter erlitt einen Nervenzusammenbruch, ihr Vater schrieb einen Brief an den Schwiegervater: „Wir haben unsere Tochter aus unserem Leben gestrichen.“
Viel später entschuldigten sich die Eltern. Und Maria schrieb: „Hoch rechne ich meinem Vater an, dass er hinzufügte: Etwas wurmt mich natürlich: dass eure Ehe so gut geworden ist.“
Marias Rezept für eine gute Ehe: „Ich kann jungen Ehepaaren nur raten, so bald wie möglich getrennte Schlafzimmer einzurichten. Distanz ist ungeheuer wichtig. Jeder muss seine Ellbogenfreiheit haben. Dieses Aneinanderklammern, das ist nicht gut. Männer wollen immer kleben, die wollen am liebsten in den Mutterleib zurück. Aber das geht nun mal nicht. Distanz bedeutet Respekt und Vertrauen.“
Sie gingen nach San Rafael, wo Paul Hans eine Klinik aufbaute. Sie bekamen vier Kinder. Sie kauften ein Haus, sangen im Chor, traten einer Methodistengemeinde bei. Sie „erkannten die unheilvollen Zeichen der argentinischen Zukunft, die mit Péron begonnen hatten und mit der Militärdiktatur nicht endeten.“ Sie fassten den Plan, zurück nach Berlin zu gehen.
Im Sommer 1963 landeten sie in Tempelhof. Der älteste Sohn weigerte sich, Deutsch zu sprechen, die zweite Tochter verkündete: „In diesem kalten Land bleibe ich nicht!“ Aber Maria schaute in den warmen Regen und auf die Kastanien und stellte sich den Herbst vor, das Rascheln des Laubes, das die Kinder zum ersten Mal hören würden.
Paul Hans führte eine Frauenarztpraxis, Maria wurde seine Sprechstundenhilfe. Und sie wandte sich wieder den Büchern zu. „Vor allem lernte ich die lateinamerikanische Literatur kennen“, nach 40 argentinischen Jahren. Sie begann zu übersetzen. Blieb aber immer, wie sie selbstspöttelnd sagte, eine übersetzende Hausfrau. Denn: „Erfahrungen gelebten Lebens, der Kontakt mit den verschiedensten Sprachebenen, eine gewisse Beweglichkeit, fast möchte ich sagen, ein gewisses Draufgängertum, befruchten das Übersetzen durchaus.“ Nach einigen kürzeren Texten fragte ein Verlag, ob sie sich „wohl an einen Roman des mexikanischen Autors Carlos Fuentes wagen würde! Natürlich wagte ich, obwohl ich von dem Herrn noch nie etwas gehört hatte!“ Sie übertrug „Terra Nostra“, das mit Joyce „Ulysses“ verglichen wird, „Das Haupt der Hydra“ und „Christoph, Ungeborn“, 13 freundschaftliche Jahre arbeitete sie mit Fuentes zusammen, gehörte zu jenen, die dafür sorgten, dass der neue lateinamerikanische Roman in Deutschland so enorm viele Leser fand. Und sie unterrichtete an der FU, gründete eine Übersetzerwerkstatt. In 18 von ihr zusammengestellten Merksprüchen für Übersetzer lauten sechs schlicht „GEDULD“.
„Kühnste Träume - eigentlich habe ich die nie gehabt. Ich komme mir vor wie ein Mädchen, das auf der Wiese sitzt, ein Netz in der Hand, und auf die Schmetterlinge wartet, um sie zu fangen.“ Tatjana Wulfert