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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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„Sehen wir so aus, als hätten wir lange Zeit, uns das zu überlegen?“

Nachruf auf Horst Lange-Prollius (Geb. 1925)
Als Horst Lange-Prollius im Frühling 1999 zurück nach Berlin zieht, denkt er über den Tod nach. „Hier kann ich mir wenigstens sicher sein, dass ich in Wannsee begraben und nicht irgendwo im Schwarzwald verscharrt werde“, sagt er zu seinem Sohn.
74 Jahre davor kam der Knabe, der da noch Horst Lange hieß, in einer Klinik in der Passauer Straße, gleich neben dem KaDeWe, zur Welt. Als er drei war, starb sein Vater Karl Adolf Lange an einem Blinddarmdurchbruch. Er wurde im Grabfeld 007 des Friedhofs Wannsee an der Lindenstraße begraben. Seine Mutter Erika heiratete wieder, und zwar den Juristen Kurt Prollius. Der adoptierte ihn, und so wurde aus Horst Lange Horst Lange-Prollius, doppelt benannt zu Ehren seines Vaters, den er kaum kannte.
Seine ersten Jahre verbringt Horst in Berlin, eine sorgenfreie Kindheit in der noch unzerstörten Stadt. Als er sieben ist, schicken seine Eltern ihn aufs Internat. Die Oberschule besucht er in Rostock, wo seine Großmutter lebt. Es wird fast ein ganzes Leben dauern, bis er wieder in seiner Geburtsstadt wohnen wird.
Seine Odyssee, so kann man das im Rückblick wohl sagen, beginnt damit, dass er sich eine Mütze aufsetzt. Er und andere Oberschüler aus Rostock tragen 1941 aus Protest gegen die Hitlerjugend ihre Schülermützen und beweisen, so steht es im Strafbescheid, „durch ihr provozierendes Verhalten, dass sie nicht gewillt sind, sich in die junge Gemeinschaft der Hitler-Jugend einzuordnen und den ungeschriebenen Gemeinschaftsgesetzen zu fügen“, Hakenkreuzstempel und Unterschrift darunter, weil die „Gemeinschaftsgesetze“ in Wahrheit natürlich alles andere als ungeschrieben waren. Die Strafe: drei Jahre Beförderungsverbot in der Hitlerjugend. Horst, damals 17 Jahre alt, wird das kaum geärgert haben. Schließlich hätte eine Beförderung in der Hitlerjugend seinen Protest gegen die Hitlerjugend fragwürdig erscheinen lassen.
Um weiteren Sanktionen zu entgehen, meldet er sich freiwillig für die Wehrmacht. Abitur in der Tasche, Offizierslaufbahn, Artillerieregiment. Nach einem halben Jahr Ausbildung in Mannheim wird er an die Ostfront verlegt. Eineinhalb Jahre Russlandfeldzug, bis er 1944 in Gefangenschaft gerät. Er kommt ins Kriegsgefangenenlager, zuerst in Sibirien, bei Weißkohl und Kartoffeln, dann arbeitet er in einem Bergwerk in der Ukraine. Wann er freigelassen werden soll, sagt ihm niemand.
Seine Familie in Berlin hat keine Ahnung, ob er überhaupt noch lebt. Seine Mutter wird es nie erfahren. Wenige Tage vor Kriegsende stirbt sie an einer Hirnhautentzündung, vier Jahre bevor Horst nach Deutschland zurückdarf. Von ihrem Tod erfährt er im ersten Brief seines Stiefvaters. Da ist er 21 Jahre alt.
Nach seiner Freilassung im Jahr 1949 beginnt Horst sein Studium in Heidelberg. Diplomdolmetscher für Russisch, das liegt nahe, schließlich spricht er die Sprache nach mehr als fünf Jahren in den Lagern fließend. Schönste Zeit seines Lebens nennt er sein Studium später, er war ein begehrter Junggeselle, auch weil er „noch alles dran hatte“, will heißen: nicht kriegsversehrt war.
Eigentlich will er seinen Doktor machen, aber die deutsche Wirtschaft sucht händeringend nach Menschen, die sich hinter dem Eisernen Vorhang auskennen. Der Ost- West-Handel muss angeleiert werden. Horst fängt als Vertreter bei der Firma DEMAG an, die auf der ganzen Welt Stahlwerke und Maschinenbaufabriken aufstellt. Als die erste Delegation der deutschen Wirtschaft nach Russland fährt, ist er dabei. Die Arbeit im Osten gefällt ihm, er ist fasziniert von der russischen Sprache und Kultur. Bald leitet er die Auslandsabteilung der Firma, ist Chef von 900 Mitarbeitern. Über die Jahre arbeitet er für mehrere große Firmen.
1957 heiratet er zum ersten Mal. Die Ehe hält sechs Jahre. 1965, zwei Jahre nach der Scheidung, lernt er bei einem geschäftlichen Besuch in der peruanischen Botschaft in Bonn eine Kubanerin kennen, 22 Jahre, eine schöne Frau. Sie bekommen drei Kinder, Manon, Carlos, Saskia. 1986 lassen sie sich scheiden.
Als Pionier des Handels mit der Sowjetunion fängt Lange-Prollius früh an, Bücher zu schreiben. Auf insgesamt 27 wird er es bringen, die meisten handeln vom Ost-West-Handel und davon, wie man Menschen anführt. Aber auch ein Gedichtband ist dabei. Außerdem, darauf sind seine Kinder stolz, steht sein Name im Brockhaus, unter Ostwesthandel, klar. Mit dem jedoch beschäftigt er sich irgendwann nur noch theoretisch. Nach zwei Hepatitisinfektionen während der Kriegsgefangenschaft werden ihm die Trinkgelage, die bei Verhandlungen dazugehören, zu viel. Er macht eine Ausbildung zum Dozenten und gibt ab jetzt Seminare für Führungskräfte.
Bis 1989 lebt er im Rheinland. Dann zieht er nach Baden-Baden, näher an die Uni in St. Gallen, wo er als Dozent arbeitet. Effizienz, das bringt er auch seinen Kindern bei, ist ihm wichtig. Wäre da nicht Berlin, die Stadt, aus der er vor mehr als einem halben Jahrhundert weggezogen ist.
Im Mai 1999 erzählt ihm sein Sohn, der in seiner Nähe wohnt, dass er nach Spanien ziehen will. „Wenn du nach Spanien gehst, dann geh ich nach Berlin“, antwortet Horst. Eine Woche später hat er eine Wohnung in Wilmersdorf. Im Juni zieht er hin.
Auf dem Friedhof an der Lindenstraße in Wannsee befindet sich seit 1929 das Familiengrab, in dem sein Vater begraben ist. Gräberfeld 007, neben denen seiner Großeltern. Auch der Name seiner Mutter und der seines Stiefvaters stehen auf der großen Grabplatte, obwohl sie auf einem anderen Friedhof liegen. Das Grab, es ist eines der wenigen Dinge, die ihm niemand nehmen konnte, nicht der Krieg, nicht die Gefangenschaft, nicht die Zeit. Jedes Mal, wenn er den Friedhof besucht, spült er mit einer Gießkanne Staub und Schmutz von der Steinplatte.
Brigitte, die letzte Liebe seines Lebens, kennt Horst Lange-Prollius schon seit den fünfziger Jahren. Sie haben sich bei der Hochzeit von Brigittes jüngerer Schwester kennengelernt, Horsts erster Frau. Vier Jahrzehnte lang sind sie gute Freunde. Horst besucht sie und ihren Mann regelmäßig in Frankfurt, wenn er auf Dienstreise in der Gegend ist.
1995, er ist zum zweiten Mal geschieden, ihr Mann verstorben, begleitet Brigitte Horst zu einem Kriegskameradentreffen nach München, einfach weil er nicht alleine hingehen will. Am Abend, als alle anderen schon ins Bett gegangen sind, fragt Horst über den Tisch, warum sie sich eigentlich nicht zusammentäten. Sie seien doch beide allein. „Ich glaube, das tut nicht gut, aus familiären Gründen“, sagt Brigitte. Sie bleiben Freunde.
Ein paar Jahre später besucht Horst Brigitte auf einer seiner Geschäftsreisen. Und diesmal gibt er ihr einfach einen Kuss, und Brigitte denkt sich, warum eigentlich nicht. Warum soll man denn immer auf andere Leute Rücksicht nehmen?
Als sie ein paar Monate zusammen sind, erzählen die beiden seinen Kindern beim Abendessen, dass sie zusammenziehen wollen. „Habt ihr euch das auch gut überlegt?“, fragen die. „Sehen wir so aus, als hätten wir lange Zeit, uns das zu überlegen?“, fragen Horst und Brigitte.
„Für dich komme ich gerne auch nach Frankfurt“, sagt Horst. Brigitte zieht nach Berlin. Sie weiß, dass er es ohne die Stadt nur schwer aushalten würde. Die beiden mieten eine Wohnung hinter dem KaDeWe, nur wenige Meter entfernt von der Passauer Straße, wo Horst geboren wurde.
14 Jahre leben sie zusammen in Berlin. Sie richten sich ein. Er überredet sie, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, und sie notiert, als seine Hände den Stift nicht mehr halten können, sein neuestes Buch, einen Roman. Im Februar 2016 lässt er sich noch eine Knieprothese machen. Die Reha bricht er nach vier Tagen ab gegen Anraten des Arztes. „Das Essen ist schlecht und außerdem sind hier nur alte Leute“, sagt er und lässt sich von Brigitte abholen. Er sitzt viel auf der Veranda in diesem Jahr. „Ach, ich genieße unsere Wohnung so“, sagt er zu seiner Freundin. Mitte September korrigiert er die Zweitfassung seines Buches fertig.
Horst Lange-Prollius stirbt am 11. Oktober. Er wird auf dem Friedhof in Wannsee begraben, auf dem Grabfeld 007, unter der Steinplatte, auf dem die Namen seiner drei Eltern stehen. Johannes Laubmeier