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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Jedes Problem ist eine Chance, denn zu jedem Problem gibts eine Lösung

Nachruf auf Johann Studinger (Geb. 1940)
An einem Wintertag rutscht ihm eine Frau auf Glatteis vor die Füße, da ersinnt Johann Studinger sogleich einen Airbag to go. An einem Sommertag wird der Rosé in der Kühltasche warm, da denkt er über Sonnenkollektoren nach. Zwischendrin werkelt er immer wieder am idealen Spätzleschabbrett. Leicht muss es sein und doch solide, der Teig darf nicht am Holz kleben.
Problem - Lösung - Problem - Lösung. Ist das die Formel fürs Leben oder einfach das Leben? Zumindest das von Johann Studinger, der sich früh dem Chancenverwerten verschreibt.
Der Vater, ein Webmeister, kehrt aus dem Krieg nicht mehr in die Schwarzwälder Heimat zurück. Lösung: Studinger wird zum Versorger. Wenn er mit seiner Mutter auf eine Almhütte wandert, schleppt er Töpfe im Rucksack mit, den Gaskocher und natürlich das Brett zum Spätzleschaben. Auf dem Dorf gibt es keine höhere Schule? Studinger wandert anderthalb Stunden zum Gymnasium.
Was wird einer, dem die Lösungen fast zeitgleich mit den Problemen einfallen? Ingenieur, in Studingers Fall: Papieringenieur. Er arbeitet in einer Wattefabrik, meldet später ein Patent an, das Feuchtigkeit reduziert; es wird in Windeln und Slipeinlagen verwendet. Er geht nach Berlin, wo viel kaputt ist, die Stadt braucht Problemlöser. Vom Dorf ohne Möglichkeiten in die Stadt der Möglichkeiten.
1976, sein erster Einsatz. In Moabit steht ein Lokal leer. Seine Freunde sagen, Moabit sei das Ende der Zivilisation. Dann muss man es eben zivilisieren, denkt Studinger, kauft die „Spirale“ in der Levetzowstraße, baut seine Heimat bis ins Detail nach: Butzenscheiben in die Fenster, Biberschwanzschindeln aufs Vordach. Stellt den Weinkeller mit feinsten Tropfen aus Baden und Württemberg voll, Trollinger, Alde Gott. West-Berliner Honoratioren kommen auf ein Viertele. Studinger, immer mit schwarzer Baskenmütze, kocht Rehragout, dreht Rettiche zu Spiralen, backt Apfelküchle, schabt Spätzle. Seine Tische kann er abends doppelt besetzen. Seine Schiffsfahrten mit kulinarischer Begleitung sind ausverkauft. Er bekommt Krebs, auch das: lösbar. Mit Vitamin C, so denkt er, Sauerstofftherapie und Drüberhinwegarbeiten wird er gesund. Silvester 1989 packt er eine Musikanlage und seine Stammgäste in einen Bus und feiert auf dem Alexanderplatz die offene Mauer und die Zukunft.
Studinger sieht jetzt nur noch Lösungen. Die Stadt wird boomen. Bei der Wahl des Bundespräsidenten Roman Herzog richtet er die Feier im Kronprinzenpalais aus. Er ist begeistert, seine Bank ist es auch. Studinger kauft die „Giraffe“ im Hansaviertel, investiert in den großen Biergarten. Es gibt Schäufele, Brägele und einen aufblasbaren Pool im Garten. Gauklerfest vor dem Steigenberger, Wintermärchen am Wittenbergplatz. Studinger erfindet die Erlebnisgastronomie.
Er hat so oft neu angefangen, er glaubt an keinen Untergang. Nicht als ein Unwetter ihm die arabische Nacht am Zoo vermasselt, nicht als beim Konzertsommer im Englischen Garten der Strom zusammenbricht und er haften muss. Irgendwann sind die Probleme zu groß für einen allein. Studinger meldet Konkurs an, empfängt Sozialhilfe.
Aber er kann nicht aufgeben, er ist doch Chancenverwerter. Man müsste mal, denkt er, eine kleine Waschmaschine bauen, für die stinkenden Mikrofasertücher, die er in der Küche einsetzt. Und wie praktisch wäre ein Handschuh, der auch Topfkratzer ist.
Weil man Chancen ergreifen soll, heiratet Studinger drei Mal. „Ich bin den Umwegen dankbar, sonst hätte ich dich nie kennengelernt“, sagt er, als er schließlich Margot Kossack trifft. Sie schaben auf Weihnachtsmärkten gemeinsam Spätzle, er hat den Stand gezimmert, sie trägt den Bollenhut der Schwarzwälder.
Auch jetzt will seine Sucht nach Neuanfang täglich gestillt werden. Jede Woche bekommt sie eine Rose. Ausflüge ins Grüne, eine Weinprobe im Bett. Sie wünschen sich ein Grundstück mit Weinreben im Süden, „Castello“ nennt er es in seinen Träumen. Julia Prosinger