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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Dieses Gefühl, wenn die Motoren aufheulen, wenn sie loszischen

Nachruf auf Alfred Krauthahn (Geb. 1918)
Autos! An ihnen schrauben, in sie hineinhorchen, den Fehler finden, das richtige Ersatzteil besorgen. Er steht an der Werkbank, draußen wird es dunkel, nach und nach gehen seine Mitarbeiter nach Hause. Dann wird es Nacht und wieder Morgen, und Alfred Krauthahn steht immer noch da.
Das ist das eine, was ihn so erfolgreich macht: seine Begeisterung für das Handwerk und die Leidenschaft für die Wagen. Er bewundert ihre Kurven, die Kraft, ihre Schnelligkeit und Eleganz. Die Borgward Isabella Coupé zum Beispiel: „ein bildhübsches Auto“, „einfach der Wahnsinn“.
Die andere Fähigkeit ist mehr eine Kunst. Die Kunst, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und dazu das berühmte Gespür zu haben, für das, was die Leute wollen, was die Leute brauchen. Nach dem Krieg brauchen die Berliner kleine, wendige und nicht zu teure Autos, um ihre Waren hin- und herzufahren. Das war die Stunde der Marke „Goliath“. Drei Räder und hinten eine Ladefläche. Alfred verkauft sie hundertfach, Konkurrenz gibt es keine, denn da ist er schon der größte Goliath-Händler in Berlin.
Seine Kfz-Meisterprüfung macht er 1943. Glück, denn in den Krieg muss er nicht. Für die Armee repariert er Lkws, Einsatzort Magdeburg, wo er mit 25 Jahren Werkstattmeister wird. 40 Mann, die er dirigiert, darunter 20 sowjetische Kriegsgefangene. Arme Hunde, die hungern und in den Mülltonnen nach Essen suchen. Ohne drüber nachzudenken, gibt er ihnen seine Schnaps- und Zigarettenrationen.
Nach dem Krieg müssen sich alle Armee-Angehörigen bei der Stadtkommandantur melden. Und wer saß da auf dem Bürgermeisterstuhl? Der ehemalige Vorarbeiter der Sowjetsoldaten. „Den kenn ich doch“, sagt der. Sie begrüßen sich per Handschlag, und Alfred kann wieder gehen.
Seine Ruth hat er noch in einer Kriegsnacht kennengelernt. Die Bomben entfesselten eine Hölle aus fauchendem Feuersturm. Wer nicht tief unter der Erde saß, war verloren. Ein Orkan, in dem Ruth und Alfred sich fanden. Am nächsten Morgen musste er über Leichen steigen, um in die Werkstatt zu kommen.
Heirat und eine Tochter, die in den Trümmern von Berlin spielte. Und wieder wirkte Alfreds Glück: Die kleine Familie hatte sich in Spandau in eine Laube eingemietet. Gegenüber sammelten die Engländer ausrangierte deutsche Autos. Alfred ging rüber und fragte, ob man die kaufen könne. Konnte er, 50 Mark das Stück, und Alfreds Zukunft stand fest.
Autos kaufen, reparieren und wieder verkaufen. Das erste ist ein Opel-Kapitän, eine Limousine mit vier Türen, sogar die Polster näht er neu und bekommt dafür noch 3000 Mark. Im zerstörten Berlin gibt es legal nichts, auf dem Schwarzmarkt aber alles. Wer in dieser Zeit einen Autohandel mit Werkstatt aufmachen will, braucht mehr als nur Glück.
Benötigt Alfred Metall, sucht er in den Trümmern. Braucht er Geld, kauft er Taschenuhren, setzt gefälschte Brillanten auf das Ziffernblatt und verkauft sie als echt an die russischen Soldaten. In Magdeburg sucht er in den Resten seiner alten Werkstatt nach Gerätschaften und schmuggelt sie mit dem Schiff nach Berlin. Als die Soldaten kontrollieren, beschlagnahmen sie nur die Autodecken auf dem Vorderdeck, das Wertvolle auf dem Hinterdeck übersehen sie.
Die Rechnerei, das Geschäft mit den Zahlen und den Kampf mit dem Papier übernimmt Ruth. Penibel achtet sie auf die Ausgaben, auf die Papiere, macht alles, was im Büro anfällt. „Mein Innenminister“ oder „die Chef“ nennt Alfred sie. Und steht selbst hinten in der Werkstatt und treibt seine 70 Angestellten, Lehrlinge und Verkäufer an. Er ist ein strenger Chef, Schluderei duldet er nicht, aber ansprechbar ist er und fair, die Leute arbeiten gerne für ihn.
Doch nur an Autos rumschrauben und sie verkaufen, da würde was fehlen, ein Kitzel, eine Herausforderung. Gut, dass die Goliaths auch auf ihre Renntauglichkeit getestet werden müssen. Im Grunewald pesen er und seine Rennkumpels die Sandhügel rauf und runter. Eines Nachts schleichen sie auf die abgesperrte Nordkurve der Avus, die Rennstrecke mit der Steilwand, da wo regelmäßig die Autos brennen. Sie räumen die Absperrungen beiseite und rasen Runde um Runde, bis die Polizei kommt und sie fliehen müssen.
Doch „Fredi“, wie der schnelle Krauthahn nun genannt wird, zieht es immer wieder auf die Avus. Dieses Gefühl, wenn die Motoren aufheulen, wenn sie loszischen, wenn sie in die Nordkurve einbiegen und auf einmal schräg zum Boden dahinjagen. Zweimal gewinnt er die Berliner Wagenmeisterschaft. Es ist eine wilde Zeit, Aufbau, Abenteuer und ganz oben in der Berliner High Society mit dabei. Doch am liebsten trägt er den Blaumann. Er trägt ihn bis 1988, da verkauft er sein Autohaus, seine Werkstatt, sein Ersatzteillager.
Als er zuletzt auf den Rollstuhl angewiesen ist, reicht es ihm. Ein Krauthahn, der sich nicht bewegen kann, nicht rennen, schwimmen oder Wasserski fahren kann, ist kein Krauthahn. Mit 98 Jahren hat er auch genug gelebt. Karl Grünberg