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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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„Vielleicht kauf ich mir doch noch einen Computer“

Nachruf auf Ursula Platz (Geb. 1924)
Diese Unruhe, etwas zu erleben, zu sehen, das sie noch nie gesehen hat, immer schon, als junge Frau und auch Jahrzehnte später als Dame von 90. Keine nervöse Unruhe, lebhafte Neugierde eher. Obwohl sie auf die erste große Veränderung gern verzichtet hätte. Denn die ersten acht Kinderjahre im Oderbruch waren herrlich. Ein Hof mit Hausangestellten, ein Garten, Kirschbäume und Spargelfelder und eine Gänsemast. Die Großeltern, die Eltern, die beiden älteren Brüder und sie, Ursula, das Nesthäkchen. Doch plötzlich wurden alle Gänse dahingerafft von einer rätselhaften Krankheit, das Geld ging aus, die Familie musste den Hof verlassen und kam unter bei Verwandten in der Nähe von Oranienburg. Knapp hundert Kilometer Luftlinie nur zwischen dem Oderbruchdorf und Oranienburg, für Ursula aber eine Strecke, die ihre Vorstellung überstieg, ein Unglück, denn alles war verloren, das Haus, der Garten, die Freunde.
Die Jahre verstrichen, „Backfisch“ nannten die Erwachsenen sie jetzt, ein Mädchen mit Sehnsucht, das auf Dorffesten tanzen wollte, bis die Sterne am Himmel leuchteten, was ihre Eltern naturgemäß ablehnten.
Mit 14 wechselte sie von der Volks- auf eine Handelsschule, lernte nebenbei Tippen und Stenografie, wurde zum Arbeits- und danach zum Kriegshilfsdienst im Haupttelegrafenamt in Berlin eingezogen. „Fräulein Platz“, sagte ihr Vorgesetzter dort, „wir sind außerordentlich zufrieden mit Ihnen, machen Sie doch bei uns eine Ausbildung zur Postangestellten.“ Gern und vielen Dank, antwortete sie artig, aber schon ein halbes Jahr später kam die Unruhe wieder. „Ich will ins Ausland“, sagte sie, trotz des Gemetzels überall, und man entsandte sie als Luftwaffenhelferin erst nach Belgien, dann nach Rumänien. In Rumänien holte sie sich die Malaria, wurde nach Hause geschickt, zwei Wochen darauf war der Krieg zu Ende. Ursula räumte Trümmer beiseite, dolmetschte für die Russen, fuhr für ein paar Kartoffeln bis nach Prenzlau, zog 1949 nach Berlin, traf 1954 Wolfgang.
Er war ihr Wölfchen, sie sein Piefke. Piefke hängte in den Flur ihrer Wohnung eine Weltkarte, auf der sich nach und nach, mit bunten Stecknadeln, die Reiseroute ihres Lebens abzeichnete. Oft nahmen sie das Schiff, nach Australien, nach Amerika, nach Afrika, sie liebten es, sich auf Deck für die „Jekamis“ zu verkleiden, die „Jeder-kann-mitmachen-Abende“, Wölfchen als Pippi Langstrumpf, Piefke mit Dohle, dem Hut, auf der Perücke, Perücken trug sie immer, dunkelbraune, lockige, ein ganzer Schrank war mit ihnen vollgestopft. Auch im Pelz ließ sie sich gern sehen und mit Klunkern an Hals und Hand.
„Ist das Silber?“, wollte einmal jemand wissen. „Kindchen“, hatte sie geantwortet, „das ist Weißgold.“ Aber sie war keineswegs eine schnieke Ziege. Sie leitete die Telefonzentrale im Springer-Verlag, schwatzte ein bisschen mit Rex Gildo, wenn der für ein Interview vorbeischaute, fuhr 1968 lieber mit dem Taxi nach Hause, man wusste ja nicht, was die Studenten noch so vorhatten, arbeitete nebenbei als Kindermädchen und Haushaltshilfe, pflegte eine kranke Kollegin, lieh einer Freundin in Not 10 000 Mark, die sie nie zurückbekam.
Manchmal, wenn Piefke und Wölfchen durch die Stadt spazierten oder an die Kindertage im Brandenburgischen dachten, sagte einer zum anderen: „Ob wir Berlin noch mal ohne Mauer erleben werden?“ Dann wurde Wolfgang krank. Er starb am 8. November 1989. 20 Jahre später setzte sie eine kleine Annonce in die Zeitung: „Hallo Wölfchen, mein Schatz. Einst gingen wir gemeinsam so jung und unbeschwert. Du warst so lieb zu mir. Du warst die Sonne in meinem Leben. In Liebe, Dein Piefke.“
Sie machte weiter, lebte zwei Jahre auf der Farm ihrer Nichte in Australien. Sie hörte rund um die Uhr Radio, bevorzugt politische Sendungen, in denen sie auch mal anrief, um sich an Diskussionen zu beteiligen. Sie half den Nachbarn, goss in der Ferienzeit deren Blumen und stellte, bevor sie wiederkamen, Essen auf den Tisch. Sie briet für das Fest von Frau Müller von nebenan 20 Rouladen. Sie buk in der Weihnachtszeit unaufhörlich Plätzchen, legte die Plätzchen in schöne Schachteln und verschenkte sie.
Beim Plätzchenbacken stürzte sie und brach sich das Bein, eine komplizierte Oberschenkelfraktur, über die der Oberarzt, darauf war sie stolz, einen Artikel verfasste. Sie freundete sich mit den Ärzten und Schwestern und Pflegern an, die sie tatsächlich zu ihrem Geburtstag besuchten. Überhaupt waren ständig junge Leute um sie. „Vielleicht“, überlegte sie mit 90, „kauf ich mir doch noch einen Computer.“ Wenn ihr jemand am Freitag erklärte, was Spaghetti alla carbonara sind, ging sie am Sonnabend zum Italiener und bestellte Spaghetti alla carbonara. Hatte sie Appetit auf diese Schrippen aus Frankfurt an der Oder, setzte sie sich in den Zug. Und hin und wieder sagte sie zu einem jungen Freund: „Komm, lass uns ins Oderbruch fahren“, in ihr Kinderland, von dem aus sie einst aufgebrochen war. Tatjana Wulfert