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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Der Chef tobte, die Belegschaft bangte, er behielt die Nerven

Nachruf auf Günter Kuttner (Geb. 1937)
Die Blechdose mit dem bunten Bild einer Beduinenversammlung in der Wüste und der Aufschrift „Senoussi - 50 Orient Cigaretten“ stand schon auf dem Konferenztisch in der Potsdamer Straße, aber für Günter Kuttner war es noch zu früh. Er rauchte nie vor Sonnenuntergang, auch wenn er sich jetzt gerne eine angezündet hätte. „Im Betriebsverfassungsgesetz steht nichts von Höflichkeit!“ Franz Karl Maier, sein Chef, Verleger des Tagesspiegels und Besitzer der Mercator-Druckerei, kam so langsam auf Temperatur: „Ich brülle nicht rum, ich gebe lediglich meiner Erregung Ausdruck.“
Als Betriebsratsvorsitzender kannte Günter Kuttner das Spiel und seine Regeln. Wer sich im Arbeitskampf provozieren lässt, hat schon verloren. Der Arbeitgeber tobte, die Belegschaft bangte, und Günter Kuttner als ihr Vertreter musste die Nerven bewahren. Wenn er mit Argumenten nicht mehr durchdrang, konnte er sich auf die Streitlust des Patriarchen verlassen. Das Arbeitsgericht war gleich um die Ecke in der Lützowstraße, und die Richter hatten den notorischen Kläger Maier noch meist in seine Schranken verwiesen.
Der Beruf des Maschinensetzers, den Günter Kuttner als junger Mann gelernt hatte, ist lange ausgestorben, was folgte, nannte sich „Desktop-Publishing“. Als er nach über 30 Jahren die Druckerei verließ, beschrieb er seine Laufbahn mit „2G“: von Johannes Gutenbergs Schwarzer Kunst bis zu Bill Gates Monitoren. Vor der Digitalisierung konnte man die Zeitung am Arbeitsplatz riechen und hören. Das feuchte Papier, die aus Ruß und Leinöl zubereitete Druckerschwärze, eine zähe, klebrige Paste, die sich nur schwer von den Händen entfernen ließ, dazu das rhythmische Rattern der Maschine.
Von Gutenbergs Bibel bis zur „Bild“-Zeitung war es ein weiter Weg. Günter Kuttner und seine 250 Kollegen von der Mercator-Druckerei waren stolz, nicht für Axel Springer zu arbeiten, auch wenn sie am Ende des Monats 500 Mark weniger als die Kollegen dort auf dem Lohnzettel hatten. Sie wollten und konnten sich mit ihrer Zeitung identifizieren. Und es war eben auch ein weiter Weg gewesen, von der Lohnknechtschaft zum Betriebsverfassungsgesetz. Bei Mercator waren 98 Prozent der Belegschaft in der Gewerkschaft. Der Chef war ein harter Knochen, aber fair und politisch integer.
Kaum jemand wird als Gewerkschafter geboren. Günter Kuttner, so glaubten viele seiner Freunde, war die Ausnahme. Möglicherweise war es aber auch die Jugend im rauen Nachkriegsberlin, die ihn, so paradox das scheinen mag, zum mitfühlenden Menschen machte. Brennholz für Kartoffelschalen: Im Überlebenskampf gegen Hunger und Kälte lernte Günter Kuttner, dass gerade in der Not der Egoismus nicht weiterhilft, sondern nur Zusammenhalt und Teilen. „Es geht nicht, dass man jemanden bescheißt, nur weil der andere es nicht merkt oder sich nicht wehrt. Man darf sich nichts gefallen lassen und muss Ungerechtigkeit bekämpfen.“
„Mehr Demokratie wagen“, Willy Brandts Motto als Bundeskanzler beflügelte den jungen Drucker und Schriftsetzer, und er wollte das auch im Betrieb umsetzen. Dort galt bisher noch meist die „Champignon-Theorie“: Wer den Kopf rausstreckt, wird abgeschnitten. Günter Kuttner ließ sich zum Betriebsrat wählen, um, geschützt durch das Amt, seinen Kopf für die Kollegen hinzuhalten. Ein Funktionärstyp war er nicht; unbestechlich und geradeaus setzte er sich für seine Leute ein und wusste immer, wer private Probleme hatte und Hilfe brauchte.
Sein Privatleben litt unter dem ständigen Einsatz für andere. Nach seiner Zeit in der Druckerei arbeitete er als Landesbezirksvorsitzender der IG Medien Berlin/Brandenburg weiter. Und erlebte von dort aus den Umbruch in sämtlichen Druckbetrieben der Region nach dem Mauerfall. Bei unzähligen Verhandlungen und Auseinandersetzungen war er der Fels in der Brandung - wenn auch einer, der deshalb ständig unterwegs war.
Seine Tage hatten 16 Arbeitsstunden: Gut für die Gewerkschaft, schlecht für seine beiden Ehen mit drei Kindern.
Günters Leben war Arbeit, mehr für andere als für sich selbst. Urlaub war selten, aber wenn die Sonne schien, musste er raus. Wo immer ein Spargel- oder Erdbeerfest stattfand, konnte man ihn finden. War im Kopf und im Kalender mal doch etwas Platz, musste es ans Wasser gehen, möglichst ans Meer. Karibik, Mittelmeer und Nordkap hatte er gesehen, fast immer auf eigene Faust, ohne Anleitung und Reisebüro. Meist jedoch ging es an die Ostsee, dort hat er auch seine letzte Ruhe gefunden. Sebastian Rattunde