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Kai Sender
Sozialarbeiter
Bremen
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Er sah, wie im Sportpalast die Massen aufsprangen und jubelten

Nachruf auf Franz Witecki (Geb. 1919)
Man ist ja nicht mehr Mitte 80!“, sagte Franz Witecki, als er zum letzten Mal ins Krankenhaus kam. Er war 97, er war fast taub, und die Stimme war brüchig geworden, bis vor Kurzem konnte er noch weite Strecken gehen, doch nun wollten auch die Beine nicht mehr. In kurzer Zeit hatte er stark an Gewicht verloren. Er wollte keine Untersuchungen, keine anstrengenden Therapien mehr über sich ergehen lassen. Schmerzfrei auf das Ende zugehen, so die Verabredung mit den Ärzten. Doch das war schwerer als gedacht. Die Schmerzen waren vielfältig, und nicht nur das: Was würde seine Ehefrau ohne ihn tun? Und auch die Sorgen über eine Welt, die verrückt spielt, konnte er nicht einfach abschütteln.
Seit einigen Jahren hatte er den Spruch gehört: „Na, die Hundert schaffen Sie jetzt auch noch!“ Darauf war er nie eingegangen. Was jetzt geschah, interessierte ihn, die Flüchtlingsströme, und was würde aus den Kindern werden, die in eine solche Welt hineingeboren wurden? Immer hatte es ihn befremdet, wenn seine Eltern ihm sagten, er sei ein Wunschkind gewesen. ein Wunschkind im Februar 1919? Kein Wunder, dass er selbst kinderlos blieb.
Es waren bescheidene Verhältnisse, in denen Franz aufwuchs. Der Vater engagierte sich in der Räterepublik, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Bürgermeister in der russischen Besatzungszone und wurde schnell wieder aussortiert, ein älterer Bruder saß als Kommunist im KZ und wurde später Funktionär. Franz wuchs in einem politisierten Umfeld auf, ohne selbst politische Ambitionen zu entwickeln. Er lernte Trompete. Ein Lehrer fand, er solle Dirigent werden. Daraus wurde dann nichts, aber als Trompeter machte er Karriere. Aus Dresden kam er nach Berlin zum Symphonieorchester.
Alles Militärische war ihm zuwider, aber das half nichts, auch er bekam seine Einberufung in die Wehrmacht. Die Grundausbildung absolvierte er in Frankfurt an der Oder. Es war schrecklich. Aber dort lernte er Käte kennen, seine spätere Frau und, noch ein großes Glück: Er wurde ins Musikkorps in Berlin versetzt und musste nicht an die Front.
Franz saß im Orchester, als Göbbels seinen Aufruf zum „Totalen Krieg“ durch den Sportpalast brüllte, er sah wie die Massen aufsprangen und jubelten. Ihn ekelte dieser Wahn an. Am 20. Juli 1944, dem Tag des Hitlerattentats, drückte man auch den Musikern Waffen in die Hände und postierte sie an zentralen Stellen der Stadt. Keiner wusste genau, worum es ging, die Befehlslage war völlig unklar.
Für Franz war das Kriegsende eine Befreiung, obwohl auch er zunächst in Gefangenschaft geriet. Die Rationen in der Sammelstelle in Berlin waren kärglich, dennoch verschenkte er einen Teil. Er hungerte und wurde als transportunfähig aussortiert. Sterben sollte er zu Hause. Die Gesünderen kamen nach Sibirien; er war nach ein paar Monaten wieder gesund und begann, sich auf dem Bauernhof seiner Verlobten in Landwirtschaft zu üben. So überstand er die ersten Nachkriegsjahre.
Als ein zweiter Schwiegersohn in die Familie einheiratete und auf dem Feld und im Stall aushelfen konnte, nahm er wieder die Trompete zur Hand und bereitete sich auf ein Vorspiel beim Ost-Berliner Rundfunk vor. Er wurde Solotrompeter und blieb es bis zur Rente. Ab und an ging er mit Gisela May, Vera Oelschlegel und anderen Größen der DDR-Musikszene auf Tourneen ins Ausland. Darum beneideten ihn alle, doch er war immer froh, wieder in Schönefeld zu landen. In seinen Reiseberichten erzählte er dann mehr von der Not der kleinen Leute als von Auftrittserfolgen und Sehenswürdigkeiten. Er hätte Professor werden können, aber als solcher hätte er die Studenten auch nach ihrer politischen Zuverlässigkeit beurteilen müssen. Das war ihm ganz unmöglich. Egal, welches System, Franz hielt Abstand.
Das änderte sich auch nach der Wende nicht. Er freute sich, dass die Familie endlich wieder zusammenkam, aber dass da plötzlich Bettler neben seiner Sparkasse am Alex saßen, dass Naziparolen gerufen wurden, dass es auf einmal in seiner Welt Arm und Reich gab, das schmerzte ihn. Einen Teil seiner Hinterlassenschaft sollen arme Kinder erhalten, das mussten seine Hinterbliebenen ihm versprechen.
„So schwer hätte ich mir das Sterben nicht vorgestellt,“ sagte er. „Ist aber eine interessante Erfahrung.“ Jörg Machel